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Singlecharts für Journalismus

Warum eine ganze Zeitung kaufen, wenn einen nur das Dossier interessiert? Blendle macht es möglich, für einzelne Artikel zu bezahlen. Das hat auch Risiken.

Unbundling nennt sich der Trend, der vor einigen Jahren bei der Musik anfing und jetzt auch den Journalismus erreicht hat. Unbundling, zu Deutsch Entbündeln bedeutet, Einzelteile aus ihrem Großen Ganzen herauszulösen – bei Musik sind das Songs aus einem Album, beim Journalismus zum Beispiel Beiträge aus einer Nachrichtensendung, wie der Kommentar der Tagesschau, der auf Facebook geteilt wird. Oder einzelne Artikel aus Zeitungen.

Letzteres war bisher jedoch kaum möglich, nur durch Abfotografieren oder zu horrenden Preisen, zu denen man sich gleich die ganze Zeitung oder Zeitschrift kaufen konnte. Oder, wenn eine Zeitung den Artikel online kostenlos anbot – was aber nur die Wenigsten mit den aufwändigen Geschichten tun, und wenn, erst einige Zeit nach Erscheinen der Printausgabe. Seit September letzten Jahres ist es in Deutschland einfacher geworden, nach Belieben nur die Titelgeschichte der FAZ, die Seite 3 der Süddeutschen oder das Dossier der ZEIT zu erwerben, weiterzuempfehlen und auf Twitter oder Facebook zu teilen. Möglich macht das das niederländische Start-up Blendle, das 2013 gegründet wurde. Blendle wird oft als das iTunes des Journalismus bezeichnet: Wie in dem digitalen Musikstore kann man hier einzelne Artikel oder ganze Ausgaben kaufen, zwar ohne Probelesen, dafür aber mit einer kurzen, genauen Beschreibung. Und wenn einem das Gekaufte nicht gefallen hat, bekommt man ganz einfach sein Geld zurück.

Wie bei Twitter gibt es bei Blendle auch Trending Topics – und eine Top Ten, die Singlecharts für Journalismus. Noch ist das Unternehmen aber so klein, dass um die 1.000 Käufe reichen, um in die Top Ten zu kommen. Für die Verlage lohnt es sich finanziell bisher kaum, dabei zu sein. Bekannt ist das Start-up vor allem bei Journalisten.

Das i-Tunes-Prinzip setzt sich durch

Genau wie es beim iTunes-Prinzip zunächst einen Aufschrei gab, man könne Musikstücke doch nicht einfach aus ihrem von Künstler und Produzent liebevoll komponierten Kontext, dem Longplayer, herauslösen, kann man auch bei Blendle Angst um eine unausgewogene Berichterstattung haben. Natürlich: Zeitungen und Zeitschriften bestehen nicht nur aus irgendwie aneinandergereihten Artikeln, sondern sind von Redaktionen erstellte Kompositionen. Sie stehen, bestenfalls, in einem ausgewogenen Kontext, der auch verschiedene Meinungen zulässt. So wie ein Album verschiedene Facetten eines Künstlers zeigt und nicht nur den einen Partyhit, den eh schon jeder kennt.

Aber dieses Prinzip ist in den letzten Jahren durch Internet und soziale Medien, durch iTunes, Spotify und YouTube so aufgeweicht, dass es wenig Sinn macht, krampfhaft daran festzuhalten. Sich als Verlag dieser unaufhaltsamen Entwicklung völlig zu verweigern käme einer didaktischen Bevormundung der Leser gleich – was mit Sicherheit eher bewirkte, dass sich gerade junge Menschen von den etablierten Medien abwenden. Denn sich online zu informieren ist einfacher, geht schneller. Man kann Beiträge mit seinem Netzwerk teilen oder Empfehlungen anderer bekommen. Sehr viele Leute beziehen ihre Nachrichten aus ihrem Facebooknewsfeed, der Beiträge gelikter Seiten und von Freunden anzeigt. Noch dazu ist Onlinejournalismus häufig kostenlos. Aber viele sind auch bereit, für guten Journalismus zu bezahlen – dann aber eben nicht für den Sportteil, oder den Autoteil, oder das Feuilleton. Sondern für die aufwendige Reportage über die Kölner Silvesternacht. Und das Meinungsstück zu Crispr.

Raus aus der Filterbubble

Man kann bei Blendle zwar nach Themen auswählen oder einfach rumblättern, es gibt aber auch eine Redaktion. Täglich bekommt man von den Redakteuren, von Michael oder Antje, eine E-Mail mit einer Auswahl besonders lesenswerter Stücke. Diese sind versehen mit einer Beschreibung, die einen guten Einblick gewährt, wovon der Artikel handelt. „Dieser Text wird Ihr Leben verändern!!!“ oder „Was diese Frau heute Morgen auf dem Weg zum Bäcker erlebte, ist unfassbar!!!!“, stand da noch nie. Apropos Clickbaiting: Auch wenn es nur eine kleine Anzahl von Artikeln in die Auswahl der Blendleredaktion schafft, bekommt man hier eine ausgewogene Übersicht über aktuelle Themen und Debatten. Anders als in der Filterbubble von Facebook. Deren „Redaktion“ heißt Algorithmus.

Foto: Jana Weiss

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