Gesellschaft
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Der Wedding

Über den Berliner Stadtteil Wedding sagt man seit Jahren, er sei im Kommen. Zeit, ihn zu porträtieren.

Ich bin der Wedding. Nix Kohle, unbeliebt. Kategorisch unsexy, weil weit weg von Neukölln.
In nem normalen Reiseführer tauche ich entweder gar nicht auf, oder werde lieblos abgefertigt. Bei wikitravel.org zum Beispiel steht unter SCHLÖSSER UND PALÄSTE gibt’s hier nicht und unter AKTIVITÄTEN ein Bindestrich und dann nichts außer Website-weiß. Es ist demütigend.

Generell mag ich das nicht, wie im World Wide Web über mich geredet wird. Ich hab nicht das Gefühl, dass die Typen, die über mich schreiben, hier wirklich schon mal waren. Wenn doch irgendwo mal n Zitty- oder n Tripadvisor-Tip online geht, der mit #WEDDING getaggt ist, dann isses meistens das Stadtbad und das gibt’s nicht mehr, ruhe in Frieden.

Offline? Offline hab ich das Gefühl, dass es den Leuten hier immer peinlich ist, wenn sie „Wedding“ sagen müssen, auf die Frage, wo man denn wohne. Wie ein dicker fetter Ehemann, den man zwar gut leiden kann, aber nicht auf Partys mitnimmt.

Ganz offiziell will mich keiner. Über meine Perspektiven reden aber alle. Das schmerzt schon, wenn einem seit zehn Jahren nachgesagt wird, man kommt und kommt und dann kommt man doch nich.

Aber soll ich Ihnen mal was sagen? Ich habe ordentlich was zu bieten, das redet mir keiner aus. Bei mir kann man die Mieten für schöne Altbauwohnungen noch bezahlen und hier tummelt sich so viel Künstlervolk, dass es auch für die jungen Studis nicht langweilig wird. Ich bin voll von grünen, zumindest teilweise recht unverdrogten Oasen. In meinem Herzen liegt der Plötzensee und nen zentraleren und dabei gleichzeitig Touri-freieren Strand gibt es in Berlin weit und breit nicht. Nirgendwo schmeckt das Kumpir besser als bei mir. Und von den Osramhöfen bis zum Anita Berber biete ich euch alles, was euer kulturgeiles Herz begehrt. Ich habe sogar einen geheimen Ballsaal. Wo, verrate ich aber nicht.

Zugegeben, man muss wirklich ein bisschen in die Seitenstraßen, um meine Schokoladenseite zu Gesicht zu kriegen. Vielleicht schon mal bei Ernst im Sprengelkiez gewesen, bei der Jazz-Session? Ja, sehn Sie, von dem Kiez haben Sie schon gehört. Ist mein Aushängeschild. Die vielen kleinen Kinder nerven mich ein bisschen, aber schön ist es, vor allem das Nordufer, dagegen kann man nichts sagen. Das Kontrastprogramm sind die Salafisten, die haben jetzt hier einen Treffpunkt.

Ganz sauber und gentrifiziert will‘s ja auch wieder keiner haben, oder?

Wieder ein Schwenk auf die Müllerstraße, zum Leo fahren an der alten Schinkel-Kirche und dort einen Kaffee trinken bei „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück.“ Da kriegt man immer einen ganzen Löffel Brownie umsonst zu jedem Heißgetränk. Haben sie schon mal gehört, dass es sowas in Neukölln gibt? Die Besoffenen-Horde gegenüber einfach ignorieren. Wenn‘s schon Abend ist, auf zum Nettelbeckplatz und dann am Vulkan-Brunnen ein Bierchen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann mach ich mir langsam ein bisschen Sorgen, dass ich eventuell doch bald komme und dann nicht weiß, wie umgehen damit, verstehn Sie? Weil ich darauf eigentlich keine Lust hab, auf den ganzen Stress.
Es ist irgendwie auch ganz entspannt der Außenseiter zu sein. Dann erwartet wenigstens keiner was von einem.

Foto: HPIM2291 von Carsten unter CC BY-NC-ND 2.0

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