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Reif für die Klappse

 

Das zeitgenössiche Tanzstück „Les possédés“ der Choreographin Toula Limnaios ist bis 12. Juli in der HALLE in Berlin Prenzlauer-Berg zu sehen. Macht und Missbrauch, Angst und Neurose: Das eindrucksvoll inszenierte Stück ist ein Schlachtfeld der Extreme und versetzt den Zuschauer in surreale Welten.

„Lauf! Spring! Küss mich!“. Die Tänzerin in Mantel und Kleid richtet eine Pistole auf einen Mann und schreit ihn an. Sie laufen, rennen, springen durch den kleinen Raum der HALLE. Er gehorcht, lässt sie ihre Macht auspielen, so erniedrigend und absurd die Befehle auch sein mögen. „Jetzt sprich! Erzähl mir was von Dir“. Zunächst schienen sie wie ein Paar, das Beziehungsprobleme austrägt. Doch ihre Befehle werden tyrannischer, bedrohlicher, grenzen an Missbrauch. Kurzzeitig wehrt er sich, flucht auf Portugiesisch.

In „Les possédés“ von Toula Limnaios evozieren die Tänzer Abgründe der menschlichen Psyche. Nach dem theatralischen Intro des Paars, changieren sie und vier weitere Tänzer und Tänzerinnen zwischen Täter- und Opferrolle. Sie reißen einander die Kleidung vom Leib, knebeln sich selbst mit Strumpfhosen, scheinen von Dämonen besessen. Dann springen sie unbeschwert umher, als hätte ihnen jemand auf Knopfdruck den Dämon ausgetrieben. Frontal bauen sie sich vor dem Publikum auf, bewegen sich schleichend, animalisch auf und ab, wie ein Tier vor dem Käfiggitter.  Sie fixieren ein imaginäres Etwas zwischen Tanzraum und Zuschauertribüne, das sie scheinbar hypnotosiert und zwingt, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Mal üben sie als Täter Macht aus, quälen ihr Opfer, mal stecken sie selbst in der Opferrolle oder üben Autoaagressionen aus.

Das musikalische Spektrum scheint unendlich zu sein. Kompositionen und auditive Kollagen von Ralf R. Ollertz wechseln von einem Extrem ins andere. Ist sie die Quelle, die die emotionalen Zustände provoziert? Arien, Trommelbeats, bishin zu historischen Tonaufnahmen, elektronische Signale oder Rauschen begleiten das Geschehen und bringen auch den Zuschauer in die unterschiedlichsten Gefühlszustände.

Ähnlich wie in Filmen von David Lynch herrscht eine undefinierbare Ursache, die das Geschehen surreal erscheinen lässt. Die Choreographin Toula Limnaios beruft sich auf Werke des russischen Autors Fjodor Dostojevsky, der sich in seinen Werken in die Welten psychisch Kranker bewegt. „Les possédés“ – Die Besessenen ist eine alternative Übersetzung für sein Werk „Die Dämonen“.

Limnaios bezeichnete ihren Stil einmal als „magischen Realismus“. Dieses Stück scheint wie eine realistische Studie, psychiatrische Therapie und ein surrealistisches Kunstwerk des zeitgenössischen Tanztheaters zugleich.

Ruth Wolter

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