Literatur
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Für wieder mehr Küssen

Hätten die Gebrüder Grimm im Deutschland des 21. Jahrhunderts gelebt,
sie hätten alle ihre Märchen tragisch enden lassen. Der Schluss von
Aschenputtel ginge heute etwa so:

Und als Aschenputtel den Fuß in den goldenen Schuh des Königssohns
steckte, konnte zwar jeder sehen, dass dieser wie angegossen saß, der
Jüngling aber hatte sich längst in eine der bösen aber rattenscharfen
Stiefschwestern verguckt und so geschah es, dass das arme Aschenputtel
auch fortan unbarmherzige Arbeit verrichten musste und irgendwann elendig
starb.

Eine gute Geschichte funktioniert im Jahr 2012 nur noch selten über
güldene Treter oder kitschige Kussszenen. Die Hoffnung auf ein Happy End,
ein glückliches Ende, in der Kunst sowie im wahren Leben ist verpönter
denn je, wird sie doch gemeinhin als unrealistisch, naiv und nicht
zuletzt ästhetisch banal abgestempelt.

Tragisch hingegen geht immer

Bestürzendes, Trauriges, Schockierendes –
das alles erinnert den geübten Pessimisten ans echte Leben, und für das
gibt es ja sowieso kaum noch Hoffnung. Der Miesmacher liebt es, in seinem
Katastrophendenken bestätigt zu werden und eigentlich muss er dafür nur
das Radio anschalten in Zeiten von Konjunktur, Krise und Kollaps. Die
Anhänger der täglichen Apokalypse übersehen dabei bloß eine schlechte
Nachricht: Sie liegen falsch

Die letzten Optimisten, die so gerne als hoffnungslose Träumer belächelt
werden, tun hingegen das einzig Richtige, denn sie machen im Land der
Nörgler und Negativdenker den entscheidenden Unterschied. Wem helfen in
hoffnungslosen Zeiten hoffnungslose Gedanken? Machen sie uns zu
aufgeklärteren Menschen?

Der Glaube ans Happy End verschleiert keine brutalen Tatsachen, er
funktioniert eher als zuversichtlicher Dreh: Mit der Aussicht auf eine
Belohnung am Schluss lässt sich mehr aushalten. Die Dinge optimistisch zu
betrachten, das heißt motiviert sein, und das regt im Idealfall zum
bestmöglichen Engagement auf dem Weg zum Happy End an. Warum sollte man
sich beim Schreiben einer Abschlussarbeit abrackern, wenn man von
vornherein nicht ans Bestehen glaubt?

Genauso geht’s auch andersrum

Wofür soll man schuften, wenn nicht auf
ein gutes Ende hin? Warum sich bemühen, wenn nicht das Ziel Erfolg
verspricht? Was wäre eine Revolution ohne das Ziel eines Umschwungs?

Dieses Prinzip funktioniert sogar im Fall eines Fehlschlags. Der Glaube
ans gute Ende ist die beste Versicherung gegen das schlechte. Auch wenn
das Ziel mal verfehlt wird, war doch wenigstens der Weg dorthin
beschwingt. Selbst wenn am Ende nicht geheiratet wird, kann man auf eine
gute gemeinsame Zeit zurückblicken und hat vielleicht sogar etwas gelernt
für die nächste Beziehung – vielleicht ja dann mit Happy End.

Es geht nicht immer um das große, triumphierende Ende. Happy Ends
funktionieren im Großen wie im Kleinen, jeden Tag, jederzeit. Auch der
größte Pessimist freut sich heimlich, wenn er die letzte Bahn erwischt
oder der ersehnte Antwortbrief im Briefkasten klemmt. Wir brauchen keinen
Zeigefinger, der einen realistischen Pessimismus predigt, sondern eine
Revolution der Zuversicht. Praktischerweise ist ein bisschen Optimismus
in Gedanken kostenlos und schnell selbst gemacht. Und das Beste: Er
funktioniert sogar bei Pessimisten! Heute schon probiert?

Ein Film, ein Märchen, ein Buch mit Happy End kann dabei inspirieren. Es
gibt nichts Schlechtes an gut dosiertem Kitsch, also: ruhig mal wieder
mehr küssen!

 

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Kategorie: Literatur

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