Gesellschaft
Schreibe einen Kommentar

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad

2009 gründet Richard Earnest sein sonderbares Start-Up. Heute ist der Brite ein erfolgreicher Unternehmer und seine begehrten “RemPods” die wohl lebenswerteste Alternativmedizin für Demenzkranke.

Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad,
meine Oma ist ‘ne ganz patente Frau.

Meine Oma hat im hohlen Zahn ein Radio,
meine Oma ist ‘ne ganz patente Frau.

Meine Oma hat ‘nen Nachttopf mit Beleuchtung,
meine Oma hat Demenz.

Das Lied, das ich als Kind mit meiner Schwester während unserer Autofahrt in den Urlaub gesungen habe. Die wenigen Minuten, in denen es keinen Streit über die unausgeglichene Platzaufteilung der Rückbank gab. Unsere Wunschvorstellung einer idealen Oma ist heute erschreckend realistisch. Aus der patenten Frau ist eine Konsummaschine patentierter Pillen geworden, die sie davon abhalten sollen, das Radio im Zahn zu suchen und meinen iPod mit ihrem Gebiss zu verwechseln.

Körper anwesend, Geist verwesend

Ich muss zugeben, es funktioniert. Meine Oma hat seit Beginn ihrer medikamentösen Einstellung nicht mehr den Hühnerstall betreten, kein Radio angeschaltet oder gar den Wunsch nach akustischer Hintergrundkulisse geäußert. Auch den Nachttopf braucht sie nicht. Sie hat jetzt Pflegestufe 2, das heißt Windeln wechseln und drei Mal täglich Pflegedienst. Es funktioniert. Meine Oma sitzt lethargisch auf dem Sofa, ihr Körper ist anwesend, ihr Geist ist verwesend, kurz vor gehirntot. Soll das die Lösung sein?

Das ist die Frage, mit der Richard Earnest 2013 die Jury der britischen Castingshow “Dragons’ Den” konfrontiert. Der junge Brite hat das gegründet, was wir ein erfolgreiches Start-up nennen. Ein Begriff, der seinen Kunden nichts sagen wird. Wie alle Jungunternehmer brennt er darauf, angetrieben vom Gründergeist, mit der Zeit zu gehen. Innovation schaffen, Investoren gewinnen, expandieren und die Welt verbessern.

In der britischen Castingshow haben Pioniere wie Earnest die Gelegenheit, Wirtschaftsmogule von ihren Visionen zu überzeugen. Der Beste gewinnt eine stattliches Startkapital inklusive Coaching durch Experten. Anders als seine Mitstreiter präsentiert der gelernte Bühnenbildner eine sehr eigenwillige Interpretation von Fortschritt. Buchstäblich schreitet er mit der Zeit – zurück, in das letzte Jahrhundert. Eine Welt, die es nicht mehr gibt. Die Welt seiner Kunden.

Endlich wieder Humphrey Bogart und Connie Francis

Der Gemeinschaftsraum wird zur altvertrauten Eckkneipe, der Speisesaal zum Esszimmer im Stil der 50er. Ein flimmernder Schwarz-Weiß-Fernseher, der Humphrey Bogart zu seinen Bestzeiten in Casablanca zeigt, eine Jukebox, die Platten von Connie Francis spielt. Da hebt sich das Dach, das funktionelle Design des Pflegeheims wird auf den Kopf gestellt. Das ist es, was Earnest den klugen Leuten der Pharmaindustrie entgegensetzt: Einfache Bühnenbilder, schnell und unkompliziert auf- und abbaubar, sogenannte “RemPods”. Die originalgetreuen Nachbildungen einer vergangenen Realität konkurrieren auf dem gerontologischen Weltmarkt mit Beruhigungsmitteln und Neuroleptika.

Im Online Store gibt es per Mausklick Vintage Cinema, die Pop-up Werkstatt oder gerne auch einen Tante-Emma-Laden samt der längst ausgestorbenen Produktpalette. Das Langzeithirn kann die vertraute Umgebung erkennen und in einen kognitiven Zusammenhang setzten, der den Betroffenen Sicherheit und Orientierung gibt. Oft dauert es nur wenige Stunden, bis am Stammtisch des Pop-up-Pubs heiße Diskussionen über die Präsidentschaftswahl von John F. Kennedy geführt werden und Essensverweigerer genüsslich den Frankfurter Kranz hinunterschlingen. Die Kuchengabel halten sie selber.

Ursache unklar, Wirkung enorm

 Es bleibt die Frage nach der Effizienz der “Interior-Medizin”. Kann eine originale Coca-Cola-Flasche von 1950 den Verfall des Gehirns aufhalten? Welch bahnbrechende Wertsteigerung für den Marktführer der Erfrischungsgetränke. Und seit wann ist eine Blümchentapete in der Lage, die Produktion von Proteinen im Hirnstoffwechsel anzuregen? Fragen, auf die Earnest keine Antwort hat. Als Homöopath unter den Bühnenbildnern beschäftigt ihn nicht die Ursache. Sein Ziel ist die Wirkung und die ist enorm.

Ich denke an meine Oma. 2,14 Euro kostet ihre allabendliche Arizepttablette. Der immaterielle Preis ist weitaus höher. Ein zweiseitiger Katalog an Nebenwirkungen, der den anatomischen Querschnitt von Kopf bis Fuß versorgt. Von Halluzinationen, über Magengeschwüre bis hin zu Nierenstörungen – in der Kategorie “gelegentlich bis häufig” kommt jede noch funktionierende Zelle auf ihre Kosten. Besonders der behandelnde Arzt sowie weitere Pharmakonzerne, die sich auf die Linderung von Nebenwirkungen spezialisiert haben. Zuzüglich der 2,14 Euro versteht sich.

Gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung von 4,5 Jahre nach Diagnose zahlen die Gesundheits- und Sozialsysteme bei gleichbleibender Dosierung 3514,95 Euro für die medikamentöse Betäubung des Zellhaufens, der meine Oma ist. Es reicht das Zahlenverständnis eines Viertklässlers sowie die Anwendung banaler Subtraktionsverfahren, um festzustellen, dass ein “RemPod”, den es ab 1700 Euro gibt, Kosten, Pflegepersonal und Nerven spart, während die Lebensqualität aller Beteiligten steigt.

Richard Earnest wird die tödliche Krankheit nicht heilen können. Früher oder später wird meine Oma sterben. Sterben ist menschlich. Aber ist das eine humane Art zu sterben? Soll das die Lösung sein? Die Jury von “Dragons’ Den” hat diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet und 100.000 Euro in das Unternehmen des britischen Bühnenbildners investiert. Eine sinnvolle Entscheidung, der ich gerne zustimme. Ich bevorzuge Frauenpower im Alter und exzentrische Lifestyle-Accessoires für die durchschnittlichen 2,5 Jahre, die meiner Oma noch bleiben.

Meine Oma bekommt ‘nen “RemPod” mit Geländer,
meine Oma ist ‘ne ganz patente Frau!

FacebooktwitterFacebooktwitter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert