Gesellschaft
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“Ich dachte, ich müsste bald sterben”

Hypochondrie ist eine Krankheit. Doch die wenigsten gehen damit zum Arzt.

David (*Name geändert) dachte schon mehrmals, er habe nur noch wenige Tage zu leben. Jedes Mal stellte sich seine Angst als unbegründet heraus. Als Hypochonder würde er sich nicht bezeichnen.
David sind seine Ängste unangenehm. Er möchte deshalb unerkannt bleiben. Der Jura-Student beschreibt sich selbst als ehrgeizig und zielstrebig. Er hat gute Noten und Freunde, mit denen er abends feiern geht oder für Klausuren lernt. Was die meisten seiner Freunde nicht wissen, ist, dass David schon mehrmals befürchtete, sterben zu müssen. Zuletzt trug er die Todesangst drei Monate lang mit sich herum.

„Vor ungefähr einem Jahr habe ich ein Muttermal bei mir am Arm entdeckt, das gefährlich aussah“, erzählt David. Ursprünglich war ihm das Muttermal aufgefallen, weil es auffällig groß und dunkel war. Bei genauerem Hinsehen hatte er dann eine unscharfe Begrenzung bemerkt. „Ich habe mich da richtig reingesteigert und es auch unter einer Lupe angeguckt, da sah es wirklich komisch aus. Deshalb habe ich Angst bekommen.“

Tagelang las der Student medizinische Artikel über Hautkrebs im Internet, sah sich Google-Bilder an und war schließlich überzeugt, ein malignes Melanom zu haben. Ein malignes Melanom ist die Bezeichnung für schwarzen Hautkrebs, eine der schlimmsten Krebserkrankungen. Sie ist deshalb so gefährlich, weil diese Krebsart schon früh Metastasen in die Lymph-und Blutbahnen streut und andere Organe befällt. „Als ich gelesen habe, dass dieser Krebs sich schnell im Körper weiterverbreitet, habe ich sofort einen Termin beim Hautarzt gemacht“, sagt David.

Dann der Schock: Obwohl David um einen zeitnahen Termin bei sieben verschiedenen Hautärzten bat, bekam er den frühesten Termin in drei Monaten. „Ich dachte, ich müsste bald sterben“, erinnert sich der Student. Nach drei Monaten kam für David endlich die erlösende Nachricht. Der Hautarzt versicherte ihm, der Leberfleck sei vollkommen harmlos. Erst zu diesem Zeitpunkt erzählte David seinen Eltern von seiner Todesangst. „Sie waren ein bisschen geschockt, dass ich ihnen das so lange verschwiegen habe, aber sie meinten auch, ich wäre schon ein kleiner Hypochonder“, erzählt er.

Auslöser für Hypochondrie können in der Kindheit liegen

Das sieht David allerdings anders. Er führt seine extreme Angst vor tödlichen Krankheiten auf ein Erlebnis in seiner Kindheit zurück. Mit sechs Jahren entdeckte er eine Art Pickel in seiner Kniekehle, den seine Eltern zunächst als harmlos abtaten. Drei Tage später wurde bei dem Sechsjährigen eine Blutvergiftung diagnostiziert. „Ich glaube, dass das der Grund ist, warum ich so ängstlich geworden bin, sobald ich etwas Ungewöhnliches an mir entdecke“, sagt er. „Aber als Hypochonder würde ich mich nicht bezeichnen.“

Bernhard Palmowski ist Facharzt für Psychosomatische und Innere Medizin in Berlin und behandelt derzeit ungefähr 30-40 Patienten mit hypochondrischen Symptomen in seiner Praxis. „Die zwanghaften Persönlichkeitszüge sind oft sehr tief mit einer persönlichen Vorgeschichte verankert“, erklärt der Arzt. So wie mit Davids Kindheitserlebnis.

Obwohl sich auch Persönlichkeiten wie Harald Schmidt oder Woody Allen in der Öffentlichkeit dazu bekannt haben, an Hypochondrie zu leiden, ist der Begriff noch immer negativ besetzt. Für manche ist „Hypochonder“ gar ein Schimpfwort. „Mit der Hypochondrie geht immer auch ein starkes Schamgefühl einher“, weiß Palmowski. „Patienten erleben Herabsetzungen und Wertungen. Viele behalten diese Sorgen und Nöte, soweit es irgendwie geht, für sich.“

Krankheit der Gelehrten

Umso verblüffender ist es, dass Intellektuelle im 18. Jahrhundert geradezu darauf brannten, sich die Krankheit attestieren zu lassen. Im Volksmund sprach man damals sogar von der „Krankheit der Gelehrten“. Ende des 17. Jahrhunderts begannen sensible Naturen ihrem persönlichen Befinden erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Bald galt es als schick, an der „windigen Melancholey“ zu leiden, aus der später der Begriff „Hypochondrie“ hervorging. Die Patienten beschrieben es als ein unbehagliches Gefühl unterhalb der Rippengegend. Daraus entstand der Begriff „Hypochondrie“. „Hypochondrium“ bezeichnet den Bereich unter dem Rippenknorpel.

Heutzutage weist schätzungsweise jeder Fünfte hypochondrische Symptome auf. An einen Arzt wenden sich nur die wenigsten. Dabei ist Hypochondrie heilbar. „Man kann das sehr gut behandeln, in der Regel im Laufe einer längerfristigen Therapie“, sagt Palmowski. Wichtig sei, dass jeder Patient eine individuelle Therapie bekomme. Diese ist aufwendig. Es müssen Gespräche geführt, frühere Ärzte konsultiert und eventuell Untersuchungen durchgeführt werden, um befürchtete Krankheiten auszuschließen.

Viele sehen Hypochonder noch immer als eingebildete Kranke. Bernhard Palmowski ist es wichtig, diesen Begriff zu vermeiden. „Das wird den Patienten überhaupt nicht gerecht“, meint der Mediziner. „Eine Hypochondrie ist enorm quälend und beängstigend und auch die Untersuchungen sind sehr belastend. Manche unserer Patienten hatten mehrere Darmspiegelungen, Magenspiegelungen und Herz-Katheter-Untersuchungen. Zu behaupten, dass ein Hypochonder ein eingebildeter Kranker ist, oder dass das keine Krankheit ist, finde ich fahrlässig.“

David hatte seit fast einem Jahr keine Todesangst mehr und ist froh darüber, denn er weiß, wie belastend allein die Angst vor einer schweren Krankheit sein kann. „Auch wenn ich das für mich selbst nicht in Anspruch nehmen möchte, würde ich Leuten, denen es ähnlich oder schlimmer geht, raten, sich damit an einen Arzt zu wenden“, sagt er. David selbst ruft bei kleineren Beschwerden jetzt immer eine Freundin an. Die studiert Medizin. Und sie kann ihn meistens beruhigen.

Foto: Techniker Krankenkasse/Flickr.com

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Kategorie: Gesellschaft

Aufgewachsen bin ich in der Nähe von Hildesheim in einem Dorf, in dem die Welt noch in Ordnung ist. Offen für andere Kulturen habe ich mein Studium der Medien und Kommunikation im Freistaat Bayern (Augsburg) und dann ein Semester in den Vereinigten Staaten von Amerika (Washington DC) verbracht. Währenddessen Praktika bei allem, was mir Spaß macht: in Print-, Fernseh-, Online- Redaktionen und bei einer Produktionsfirma. Meinen Berufswünschen aus einem Freundschaftsbuch der dritten Klasse kann ich nur zustimmen. Weise vorausschauend hatte ich auch damals schon einen Plan C für eventuelle Medienkrisen: „Schriftstellerin, Reporterin oder Schweinezüchterin.“

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