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Schauriger Hüttenzauber

Ein junger, furchtloser Mann sitzt mit sieben Gehängten zusammen am Feuer. Eine Frau schlägt ihrem kleinen Stiefsohn den Kopf ab, verarbeitet ihn zu einer Suppe und gibt diese dem Vater zu Essen. Das alles geschieht jedes Wochenende kurz vor Mitternacht mitten in Berlin. Nämlich dann, wenn die Betreiber der Märchenhütte auf dem Bunkerdach am Monbijoupark zu den Vorstellungen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ und „Das Märchen vom Machandelbaum“ einladen

Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (Foto: Bernd Schönberger)

Die beiden Märchen der Gebrüder Grimm sind alles andere als romantisch oder kindgerecht. Wer auf konventionelles, angenehmes Theater steht, ist hier garantiert fehl am Platz. Autor und Regisseur Jan Zimmermann hat den Text zwar in der Originalfassung der Brüder Grimm belassen, doch die Inszenierung ist außerordentlich modern. Es wird gebrüllt, gestöhnt, geschwitzt und getobt. Das alles auf einer kleinen Bühne mit einer eher spartanisch anmutenden Kulisse. Die dargebotenen Stücke kommen jedoch auch ohne ein aufwendig gestaltetes Bühnenbild und prächtige Kostüme aus. Es sind die Darsteller, die das Publikum mit ihrem schauspielerischen Talent überzeugen.

Das erste Märchen „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ handelt von einem allzu furchtlosen jungen Mann, der auf Reisen geht, um endlich einmal das Gruseln zu lernen. Er schläft deshalb unter einem Baum, an dem sieben Männer am Galgen hängen und landet unter anderem auch in einem Spukschloss, das er von bösen Geistern befreit, wofür er als Belohnung die Tochter des Königs zur Frau bekommt. Während bei diesem Stück vor allem das laute Gebrüll und die heftig agierenden Darsteller in Erinnerung bleiben, fasziniert das Märchen vom Machandelbaum das Publikum vor allem durch die Mimik und Gestik der Schauspieler.

Nur jeweils zwei Personen spielen ein Märchen nach. Sie schlüpfen gekonnt in verschiedene Rollen und leben sich auf ungewöhnliche Weise auf der Bühne aus. Claudia Graue spielt im „Märchen vom Machandelbaum“ so leidenschaftlich und brillant die Rolle der frommen Frau und die der bösen Stiefmutter, dass auch bei den Zuschauern ungeahnte Emotionen frei werden. Das ist auch der Grund dafür, dass angesichts der makaberen Handlung und der blutrünstigen Umsetzung weder Entsetzen noch Empörung im Publikum aufkommen. Rollende Köpfe, fließendes Blut (wenn auch nur in Form von roter Grütze) und Kannibalismus bilden den Inhalt des Märchens. Die Zuschauer sind jedoch fasziniert statt schockiert, und das alles durch die enorme künstlerische Leistung von Claudia Graue und Vlad Chiriac.

Märchenhütte

Doch nicht nur die Schauspieler tragen zum Gelingen der Vorstellung bei, sondern auch die außergewöhnliche Atmosphäre zieht die Anwesenden in ihren Bann. Die Märchenhütte macht ihrem Namen alle Ehre. Viel Platz bietet die 200 Jahre alte Holzhütte zwar nicht, und es kommt schnell die Assoziation eines Saunabesuches auf, wenn man mit ca. 60 Menschen eng aneinander in einem kleinen niedrigen Raum bei Kerzenlicht sitzt, aber es ist gerade das, was den Charme dieses Ortes ausmacht. Dazu gibt es Punsch und Suppe, und der urige Kamin verbreitet im ganzen Raum einen angenehmen Kräuterduft. Ein märchenhafter Ort mit schaurigem Programm und zauberhaften Schauspielern!

… und weil sie nicht gestorben sind, spielen sie noch heute…

(Jeden Freitag und Samstag um 23 Uhr in der Märchenhütte)

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