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Kreuzberg gewinnt

Noch ist es ruhig auf der Berliner Oranienstraße. Der Sohn der Besitzer des türkischen Cafés stellt die letzten Bierbänke auf den Gehsteig, immer wieder testet er den Ton des großen Fernsehgeräts. Die letzten freien Sitzplätze füllen sich. Noch eine Stunde bis zum Anpfiff des Spiels Türkei gegen Deutschland im EM-Halbfinale.

Von der gegenüberliegenden Straßenseite hallt der Ton zum Fußballspiel aus Boxen, hier jedoch auf türkisch: Über Satellit wird ein türkischer Fernsehsender empfangen und auf einer Leinwand übertragen. Anwohner lehnen lässig an ihren Fenstern und betrachten das Treiben. Alternatives Publikum schlendert, noch auf der Suche nach geeigneten Plätzen, durch die Straße, einige Fans haben sich in türkische Flaggen eingewickelt und singen.

Aus dem Café schallt nun melancholische Live-Musik: Zwei Männer spielen auf Saxophon und Handtrommel türkische Lieder, die aus einem Verstärker dröhnen. Tonlos, wie ein Fisch, bewegt Johannes B. Kerner seinen Mund auf dem Fernsehbildschirm.

Im Café sitzen einige Fans, die sich den rot-weißen Halbmond auf die Wangen gemalt haben und reden aufgeregt gestikulierend. Immer mehr Passanten bleiben stehen, um von hier aus das Spiel zu verfolgen. Studenten trinken Bier aus Flaschen, ein türkischer Großvater sucht einen geeigneten Stuhl für seine Enkelin. Musik, lautes Stimmengewirr und Lachen erfüllt die Luft, die Polizei sperrt die Straße für den Verkehr. Der Abend gehört dem Fußball.

Die Technik und die Wut

Dann geht es los. Zur türkischen Nationalhymne stehen die Fans auf und singen laut mit, bei der deutschen herrscht betretenes Schweigen im Publikum. Schon nach 20 Minuten steht es 1:0 für die Türkei, eine Welle des Jubels rollt durch die Straße. Beim folgenden Ausgleichs­treffer der Deutschen fällt die Begeisterung weniger lautstark aus. In der zweiten Halbzeit ist auf einmal der Empfang weg: eine abrupte Stille, der Bildschirm ist weiß. Ungläubige Blicke und wütende Fäuste richten auf das Fernsehgerät. Hektisch prüft der Sohn der Cafébesitzer die Anschlüsse. Die türkische Flagge, die er sich um die Schultern gebunden hat, umweht ihn wie ein majestätischer Umhang. Schließlich meldet sich Moderator Béla Réthy über ein zugeschaltetes Telefon zu Wort und erklärt eine Übertragungspanne. Unruhe ist zu spüren: Wenn ausgerechnet jetzt ein Tor fällt? Viele schimpfen laut auf englisch, deutsch und türkisch, während weiter minutenlang das Bild wegbleibt. Nur der Ton wird übertragen. So muss Fußball gewesen sein, bevor jeder einen Fernseher zu Hause hatte und Public Viewing zum Massenphänomen wurde.

Endlich ist die Störung behoben, kein Tor ist in der Zwischenzeit gefallen. Das Mitfiebern kann weitergehen. Schon bald fallen die nächsten beiden Tore und es steht 2:2. Doch dann kommt die Entscheidung: In der letzten offiziellen Minute fällt ein weiteres Tor für Deutschland. Die türkische Hälfte schaut enttäuscht – die Glückssträhne der Mannschaft ist vorüber.

Innerhalb weniger Minuten setzt wieder die Live-Musik ein. Überraschenderweise klingt sie nun weniger getragen, sondern fröhlich und ausgelassen. Ein türkisches Ehepaar gratuliert der daneben sitzenden Gruppe junger Deutschen. Ein Gespräch über verpasste Torchancen beginnt, bald darauf geht es um das Leben in Kreuzberg. Die ersten Gäste beginnen zu tanzen und schwenken türkische Fähnchen durch die Luft. Einige haben die beiden Flaggen aneinandergenäht – ein so klischeehaftes  Fotomotiv und Sinnbild für gelungene Integration, dass ein Blitzlichtgewitter durch die Luft zieht.

Ein hüpfender Erlend Øye

Immer mehr Passanten bleiben stehen und gesellen sich zu der tanzenden und feiernden Menge. Eine Gruppe Spanier trinkt türkischen Schnaps aus Plastikbechern, zwei ältere Männer aus Texas sehen fasziniert zu. Ein Spanier bietet einen Becher an, der Mann probiert und lacht fröhlich. Auch der norwegische Sänger Erlend Øye ist unter den Tanzenden. An seiner überdimensionalen Brille ist er leicht zu erkennen. Er springt im Takt auf und ab. Dass die folkloristische Musik so gar nichts mit seiner akustischen Gitarrenmusik (Kings of Convenience) oder seinen elektronischen Projekten (The Whitest Boy Alive) gemeinsam hat, scheint ihn nicht im Geringsten zu stören.

Überfüllter als jedes Jahr am ersten Mai ist die Oranienstraße nun. Ein einzelner Lastwagen hat sich hierher verirrt und versucht, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Der Fahrer flucht aus dem Fenster, ein paar Jungen klettern auf das Verdeck und tanzen auf dem Koloss weiter. Die Polizei steht gelassen daneben während die Menschen ihre Hälse nach dem Geschehen recken. Meter um Meter bewegt sich der LKW vorwärts, wie in Zeitlupe gelingt es dem Fahrer schließlich, in die Adalbertstraße abzubiegen.

Feiern statt gewinnen

„Tür-ki-yé!“ hallen währenddessen Sprechchöre durch die Straße – gewonnen hat, wer feiern kann. Selbst Kinder sind noch unterwegs, ausnahmsweise. Vereinzelte Luftballons fliegen durch die Luft. „Da hinten ist die Party“ ruft ein Junge und zieht seine Freunde in Richtung des Cafés. Der Sohn der Besitzer strahlt und schlüpft aus den Turnschuhen, dann wirbelt er seine überraschte Mutter zum Takt der Musik durch die Luft.

Noch immer unterhält sich das türkische Paar mit den Deutschen, abwechselnd wird drinnen Becks in Flaschen geholt und miteinander angestoßen. „Wir machen hier jeden Freitag Party, kommt doch mal vorbei“, lädt die Frau ein. „Die Besitzer sind Freunde von uns, es gibt viel zu Essen und immer Musik.“ Sie deutet auf die Leinwand auf der anderen Straßenseite, auf der türkische Musikvideos laufen. „Das ist eine beliebte Sängerin bei uns“, erklärt sie den Clip, der einen Tansvestiten zeigt, der in einem golden schimmernden Kleid die Hüften bewegt. Fast ein Uhr ist es inzwischen. Das Spiel scheint fast vergessen, die Euphorie ernährt sich selbst. Nach Hause geht so schnell niemand.

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