Raum
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Rütli als Vorbild

Ansgar Schulz ist einer der Pioniere im Bereich der pädagogischen Architektur. Er verpasst der Neuköllner Ex-Problemschule einen neuen Campus

Der Geruch der Turnhalle, das Geräusch der Pausenklingel oder das Gefühl von Kreide zwischen den Fingern: Schule reduziert sich in der Erinnerung des Erwachsenen meist auf die sinnliche Wahrnehmung des damaligen Lebensmittelpunktes. Doch auch das Schulhaus als Ort des Kommunizierens und Lernens prägt seine Schüler lange über die Schulzeit hinaus.

Heute schenkt auch die Pädagogik der Schularchitektur immer mehr Aufmerksamkeit. Längst wurde erkannt, wie stark der Raum selber das Lernen beeinflusst. Atmosphäre, Akustik, Licht und Platz sind wichtige Faktoren und wirken sich direkt auf Wohlbefinden und Leistung aus. Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Eltern müssen sich mit der Architektur ihrer Schule identifizieren können.

Der Raum als dritter Lehrer

Der Architekt Ansgar Schulz ist in Deutschland einer der Pioniere im Bereich der pädagogischen Architektur. Für den Professor an der TU Dortmund ist Schule im Gegensatz zu anderen öffentlichen Einrichtungen immer zuerst als Lebensraum zu verstehen, nicht als Arbeitsraum. Er versucht, bei der Planung einer Schule als Erstes einen Kosmos zu gestalten, wo man sich gerne aufhält und das Wort Arbeit am besten gar nicht fällt.

Diese Interpretation von Lernräumen wäre wohl ganz im Sinne des italienischen Pädagogen Loris Malaguzzi, der im Rahmen der von ihm begründeten Reggio-Pädagogik den Begriff des Raums als „dritten Pädagogen“ prägte. Der erste Lehrer sind demnach die anderen Kinder, der zweite ist der Lehrer und der dritte Lehrer ist der Raum. Dieser Idee entsprechen auch offene Lernlandschaften oder das jahrgangsübergreifende Lernen in einer Gemeinschaftsschule. Das Auflösen von Grenzen innerhalb des Schulsystems bedeutet, so die pädagogische Forschung, auch das Auflösen von räumlichen Begrenzungen. Beeinflusst das pädagogische Konzept direkt die Schularchitektur, so ist von pädagogischer Architektur die Rede.

Von der Problem- zur Vorzeigeschule

Prominentes Beispiel aktueller pädagogischer Architektur ist die bundesweit in die Schlagzeilen geratene Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, heute, nach der Neukonzeption, Campus Rütli/CR2 genannt. Noch vor knapp sieben Jahren galt die Rütli-Schule als das Negativ-Beispiel schlechthin. Eine Neuköllner Terrorschule, wo die Schüler Türen eintreten und Mülleimer anzünden. Die Lehrer klagten über Gewalt, hatten Angst und schrieben einen verzweifelten Brandbrief an den Senat.

2008, nur zwei Jahre nach dem Tiefpunkt, bewarb sich die Rütli- Schule um das Modellprojekt Gemeinschaftsschule. Der Berliner Senat konnte nach der bundesweiten medialen Aufmerksamkeit kaum anders, als die Bewerbung anzunehmen. 27 Millionen Euro investierte das Land seit 2009 in den Ausbau. Die ehemalige Rütli-Hauptschule schloss sich mit einer Realschule, einer Grundschule und zwei Kindergärten zusammen. Weiter geplant sind diverse Erweiterungsbauten die sich in ihrer Gestaltung stark an dem Altbau der Rütli-Schule orientieren. So werden beispielsweise die Geschosshöhen und die Beschaffenheit der Fassaden vom Schulaltbau auf die Neubauten übertragen. Bis 2016 sollen alle Arbeiten abgeschlossen sein. Eine Multifunktionshalle wurde bereits errichtet, sie soll nicht nur für Schulsport, sondern auch für kulturelle Veranstaltungen aller Art genutzt werden können. Das ehemalige „So nicht!“-Beispiel gilt bereits heute als Vorzeigeschule und Bildungs-Oase.

“Die Schule muss mit der Stadt kommunizieren”

Die Wiedereingliederung in den Bezirk, das Öffnen nach außen und das Schaffen eines gemeinsamen Sozialraumes sind ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes der Gemeinschaftsschule Campus Rütli. „Jede Schule braucht eine eindeutige Adresse, denn Schule ist Teil unserer Gesellschaft, und das muss das Gebäude auch zeigen“, sagt Ansgar Schulz. 1992 gründete der damals 26-jährige Architekt zusammen mit seinem Bruder Benedikt das Büro Schulz & Schulz in Leipzig, welches 2010 den ersten Preis im Wettbewerb um die Erweiterungsbauten der Neuköllner Gemeinschaftsschule gewann.

Schulz plädiert dafür, Schule immer im städtebaulichen Kontext zu sehen. „Die Schule muss mit ihrem Umfeld, also mit der Bevölkerung und ihrer Stadt, kommunizieren.“ Er warnt vor einer völlig autarken, nach innen hin entworfenen Schule, die sich nur auf aktuelle pädagogische Tendenzen bezieht und sich überhaupt nicht mehr mit ihrer Umgebung beschäftigt. Das sei fatal, denn damit eine Schule nachhaltig gebaut werden könne, sei es wichtig, dass sie ordentlich im Stadtgefüge steht.

Als die Architekten von Schulz & Schulz das Gelände der Rütli-Schule zum ersten Mal betraten, waren sie überrascht. Sie verstanden nicht, warum diese Schule so ein negatives Image bekommen konnte. Es sei ein fantastisches, einmaliges städtisches Grundstück, so Ansgar Schulz. Zwischen der Weserstraße und der Plügerstraße führt die verkehrsfreie Rütlistraße direkt durch das Campusgelände hindurch und bietet so enorm viel Öffentlichkeit. Ideal für eine Architektur, welche das Ziel verfolgt, die Schule aus ihrer städtebaulichen Isolation herauszuholen und wieder verstärkt in den Bezirk einzubinden. Dafür sieht das Konzept als Erstes die Schaffung eines Campus vor, der die Rütlistraße noch mehr öffnet. In der Mitte der Straße, die das Zentrum des Geländes bildet, entsteht ein Campusplatz, an dem auch das Hauptgebäude liegt. Die Straße wird außerdem durch Bäume und verschiedene Grünräume aufgewertet. Im Idealfall, so Ansgar Schulz, würde der Campusplatz nicht nur das Zentrum des Schulgeländes, sondern ein zentraler Platz im Stadtteil werden.

Gemeinsam lernen – über Jahrgänge hinweg

Das pädagogische Konzept der Gemeinschaftsschule Campus Rütli sieht aber nicht nur einen öffentlichen Campus vor, auch die inneren Strukturen der Schule sollen sich öffnen. Der klassische Frontalunterricht hat ausgedient und mit ihm die fest eingeteilten Klassen und Klassenräume. Das neue Unterrichtskonzept verlangt nach offenen Räumen, Lernlandschaften und Begegnungsorten. Unter dem großen Stichwort Inklusion soll der Unterricht möglichst gemischt, also jahrgangsund leistungsübergreifend stattfinden.

Dies ist keineswegs ein völlig neuer Gedanke, in kleinen Dorf- oder Landschulen wurden, meist aus praktischen Gründen, bereits vor hundert Jahren alle Schüler gemeinsam unterrichtet. Noch bis in die späten Siebziger Jahre war dieses Schulsystem in Deutschland weit verbreitet. Doch dann war damit Schluss, die Heterogenität von Klassen wurde als Problem gesehen. Heute gilt sie wieder als Lösung.

Konzepte ändern sich, die Architektur bleibt

Pädagogik ist kein fester Wert. Architekt Ansgar Schulz sieht die pädagogische Forschung als einen zyklischen Kreislauf. Er ist überzeugt, dass es nach den Lernlandschaften auch wieder lange Flure und feste Klassenzimmer geben wird. Die Architektur hinke dabei den Trends der Pädagogik stets hinterher, denn als Architekt reagiere er auf die Anforderungen und Wünsche der Kunden, also der Schule, und die sind zurzeit bundesweit klar: Lernlandschaft, Inklusion, Gemeinschaftsschule. Form folgt hier der Funktion und nicht umgekehrt. Aber, so zeigt die Erfahrung, Funktionen können sich ändern, Konzepte können und werden sich ändern. Viele der riesigen, in den Siebziger und Achtziger Jahren gebauten zentralen Schulzentren Berlins, welche die damaligen jahrgangsübergreifenden Kleinschulen abgelöst haben, werden heute wieder abgerissen. Was mit den offenen Lernlandschaften heutiger Schulen in dreißig Jahren passiert, wird sich zeigen.

Doch das Beispiel der ehemaligen Neuköllner Brennpunktschule beweist aufs Schönste: Pädagogik braucht Raum, um sich zu verändern und zu experimentieren. Je flexibler die Architektur ist, desto nachhaltiger ist auch die Schule, und zwar unabhängig vom jeweiligen, gerade angesagten pädagogischen Konzept.

(Foto: Schockwellenreiter/Flickr/Creative Commons.)

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Kategorie: Raum

Judith Schwyter ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. In Zürich arbeitete sie für verschiedene Record Labels und Musikmagazine und war als Veranstalterin und Clubbetreiberin tätig, bevor sie sich entschied ihr Bachelor Studium in Design, mit Fokus auf Konzept Design, Trend- und Zukunftsforschung, an der Zürcher Hochschule der Künste aufzunehmen. Nach dem Studium arbeitete sie unter anderem als freie Journalistin, als Stylistin, als Dogwalkerin, als Bartender oder als Ausstatterin für Film und Fernsehen in Zürich, Berlin und Buenos Aires. Zwischendurch nahm sie sich immer wieder Zeit für ausgedehnte Reisen, hauptsächlich durch Asien und Südamerika. Nach dem Master Studium möchte sie als freie Journalistin und Autorin in Europa und Südamerika arbeiten sowie eigene Dokumentarfilm-Projekte realisieren.

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