Literatur

Brutal, aber lustig.

Neun Geschichten, die bei der Kindererziehung helfen sollen. Neun Geschichten ohne Happy End. Neun Geschichten mit amüsanten Reimen. “Der Struwwelpeter” und seine Folgen.

Wenn ich versuche mir mein erstes Buch ins Gedächtnis zu rufen, dann fällt mir immer wieder ein Reim ein: Weh! Jetzt geht es klipp und klapp, mit der Scher’ die Daumen ab, mit der großen scharfen Scher’! Hei! da schreit der Konrad sehr. Die Rede ist von dem Daumenlutscher aus Der Struwwelpeter oder Lustige Geschichten und drollige Bilder.

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts schaffte es der Frankfurter Nervendoktor Heinrich Hoffmann, mit Der Struwwelpeter ein Kinderbuch zu verfassen, das bis heute faszinierend auf Alt und Jung wirkt. Ich bin zum Beispiel als Kind durch mein Zimmer gesprungen, habe mit meinen Händen Scheren simuliert und laut den obengenannten Reim gerufen. Dass da gerade in der von meiner Mutter vorgelesenen Geschichte eine schwere Körperverletzung beschrieben wurde, habe ich so nicht wahrgenommen. Man sollte schließlich nicht am Daumen lutschen. Ist doch klar! Und mir wurden auch noch ganz andere Weisheiten mit auf den Weg gegeben: Der Struwwelpeter zeigte in seinen neun „lustigen Geschichten“ wie man sich tunlichst nicht zu verhalten habe. Ansonsten drohe ein Biss von einem Hund oder der Hungertod.

Illustriert wurden die Kurzgeschichten mit „drolligen“ Zeichnungen. So konnte ich zum Beispiel Bild für Bild sehen, wie Paulinchen nach dem Spielen mit Zündhölzern samt Haut und Haar verbrannte. Am Ende weinen nur die Katzen über dem Aschehäufchen. Was mich als Mädchen damals an der Geschichte erfreut hat, waren die unversehrten roten Lackschuhe von Paulinchen. Wenn die auch mit Feuer spielt – selber schuld!

Noch zeitgemäß?

Lese ich mein erstes Buch Der Struwwelpeter heute und nehme die Geschichten bierernst, so frage ich mich, ob der Nervendoktor Hoffmann nicht vielleicht zu viel Zeit mit den fantasiereichen Kindern in seiner Irrenanstalt verbracht hat.

Kinder durch Verbote und Abschreckung zu erziehen mag vielleicht zu Hoffmanns Zeit Gang und Gebe gewesen sein. Diese Methoden dann aber anhand von blutenden Daumenstumpen und halbertrinkenden Kindern darzustellen und  für Kinder von drei bis sechs Jahren anzupreisen, wirkt heutzutage mehr als unangebracht. Der Jugendschutz würde den Struwwelpeter sicher erst ab sechzehn freigeben. Zwar verrichtet dieser seine Arbeit eigentlich ganz akzeptabel, hat er in diesem Fall anscheinend vergessen, das FSK-ab-16-Siegel auf den Buchrücken zu kleben. Stattdessen kann man das Buch für gerade einmal drei Euro erwerben und an seinen Nachwuchs weiterverschenken. Das machen die meisten Eltern, weil sie das Buch aus ihrer eigenen Kindheit kennen. Beim abendlichen Vorlesen wird dann in Nostalgie geschwelgt.

Kinder erfreuen sich an dem Bösen

Und wo wir gerade bei Nostalgie sind: Ich mochte als Kind auch gerne Dinosaurier. Besonders den Tyrannosaurus Rex mit seinen scharfen Zähnen. Generell finden Kinder grausame Dinge eher amüsant oder wenigstens anziehend. Das erklärt, warum Kinder keine Angst vor den Weisheiten aus dem Struwwelpeter haben. Oder schließe ich da zu sehr von mir auf Andere? Hätte man mich mit dieser Wahrnehmung in Hoffmanns Anstalt eingewiesen? Nein, das ich die entscheidende Szene vom Daumenlutscher gern nachgespielt habe, war kein anormales Verhalten. Das Kind erfaßt und begreift nur was es sieht, schrieb Hoffmann in der 100. Auflage seines Kinderbuches. Die brutalen Aspekte der Geschichten bleiben den Erwachsenen vorbehalten.

Fest steht: Sollte ich einmal Kinder haben, werde ich drei Euro für eines der bekanntesten Kinderbücher ausgeben und hoffen, dass auch mein Nachwuchs höchst erfreut sein wird.

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Kategorie: Literatur

Die Jung-Journalistin Katharina Pencz ist eine waschechte Hamburger Deern. In der Hafenstadt groß geworden, nutzte sie das "Tor zur Welt" um nicht nur in Hamburg, sondern auch in Bordeaux Geschichte und Ethnologie zu studieren. Ihre Neugier und das große Interesse an anderen Kulturen führten Katharina schon bis nach Australien. Erste journalistische Erfahrungen hat sie während eines Praktikums beim NDR Info Radio sammeln können. Es folgten Stationen beim Hamburger Lokalsender alster radio 106!8 (Nachrichtenredaktion), dem Deutschlandradio Kultur (Radiofeuilleton) und der Berliner Zeitung (Feuilleton). Die Leidenschaft für den Hörfunk ist hier kaum zu übersehen. Am liebsten produziert bzw. schreibt Katharina über Kunst und Kulturpolitik, aber auch der Literatur und der Oper ist sie nicht abgeneigt. Auf die Frage, was ihr absoluter Traumjob wäre, würde Katharina antworten: "Tagesschau-Sprecherin. Man sollte sich immer besonders große Ziele setzen, um voranzukommen. Und ein bisschen träumen darf man ja."