Auf dem 55. Theatertreffen verwandelt Anna de Carlo mit ihrer interaktiven Inszenierung „FutureLeaks-Café: You are not alone“ das Foyer der Berliner Festspiele in eine futuristische Utopienwerkstatt für eine bessere Welt.
Dumpf tönt ein Bass aus dem ersten Stock des Hauses der Berliner Festspiele. Im Foyer tummeln sich Besucher*innen. Zwischen ihnen Anzug tragende Männer mit Sonnenbrille, Knopf im Ohr und Aktenkoffer. Einer legt die Hand an sein Ohr, scheint einen Moment zu lauschen und geht dann zielstrebig auf einen jungen Besucher zu: Noah Voelker, lockeres T-Shirt, blonde Locken. Nach einem kurzen Dialog wendet sich der Angesprochene an einen Tresen neben dem Treppenaufgang zum ersten Stock. Ein Schild verweist auf „FutureLeaks“. Eine Art Grenzbeamter händigt ihm ein braunes Heft mit gelbem Aufdruck aus. Dann widmet sich Voelker den Unterlagen: „Ich muss diesen Transitschein ausfüllen und dann stempeln lassen, um einreisen zu können. Ich muss versichern, dass ich nicht aus der Zukunft komme und die Sicherheitshinweise beachten“, sagt er. Der US-Amerikaner lebt in Amsterdam und arbeitet als freier Theaterschaffende. Er sei ermüdet von dem Gesellschaftssystem, erklärt er, und erhoffe sich vom FutureLeaks-Café Inspiration für eine bessere Welt.
أهلا وسهلا
Zum zweiten Mal findet die interaktive Theaterinstallation „FutureLeaks-Café: You are not alone“ auf dem Theatertreffen in Berlin statt. Das Leck in die Zukunft, das Schlupfloch zu einer positiven Zukunftsutopie ist ein Projekt zwischen Bewohner*innen des AWO Refugiums am Kaiserdamm und den Berliner Festspielen, sowie der Universität der Künste. Unter der Leitung der Berliner Aktionskünstlerin und Regisseurin Anna de Carlo kitzeln professionelle und Laien-Darsteller*innen die Vorstellungen von einer besseren Zukunft aus den am Geschehen beteiligten Zuschauer*innen heraus, um dann „die Gegenwart mit positiven Schlagzeilen aus der Zukunft zu fluten“.
Das Future-Leaks-Café ist eine Art Behörde, geschäftig und rätselhaft. Die genauen Abläufe kennen nur die Angestellten in strengen Kostümen, die an Uniformen erinnern. Gruppen von vier bis sieben Personen kommen intervallartig den Treppenaufgang hinauf. Dort empfängt sie eine Frau mit künstlicher Stimme aus dem Megafon: „Bienvenue, Willkommen, Welcome, أهلا وسهلا“
„Wir wollen alle etwas Ähnliches“
In der Behörde, dem „Transitbereich zwischen heute und morgen“, werden die Zuschauer*innen durch die Abläufe geschleust. Einige sitzen auf erhöhten Stühlen, unter Lampen im intensiven Zwiegespräch mit den Uniformierten. Andere werden zu größeren Tischen geführt, an denen Beamt*innen sitzen, die in ernsten Interviews den Zukunftsbeeinflusser*innen zu entlocken versuchen, wie ihre Zukunftsutopie aussieht. So konkret wie möglich. Ablenken unmöglich. Ihre Utopie wird schließlich am Redaktionstisch mit Hilfe der Transitbeamt*innen in eine einprägsame Schlagzeile verwandelt. Auf einem Flachbildschirm neben der Garderobe im unteren Foyer sowie in den sozialen Netzwerken werden diese positiven Schlagzeilen dann in die Gegenwart transportiert, wahlweise von einer Nachrichtensprecherin oder einem Nachrichtensprecher.

Schlagzeile aus der Zukunft. Foto: FutureLeaks
Einen Tag vor der Aufführung von FutureLeaks auf dem Berliner Theatertreffen ist die Stimmung des internationalen Teams noch nervös-gelöst. Improvisation ist der entscheidende Faktor für die Kunstaktion, viel planen können sie nicht. In den Vorbereitungen hätten sie sich auf der einen Seite mit der individuellen und persönlichen Zukunftsgeschichte auseinandergesetzt und zeitgleich die Zukunftsgeschichte der Welt über mehrere Monate hinweg entworfen und vorausgedacht, sagt de Carlo.”Es geht darum zu verstehen, dass man selbst ein Teil der Geschichtsschreibung ist, und diese nicht einfach denen überlässt, die für Krieg, Ausbeutung von Menschen und Natur verantwortlich sind”, fügt sie hinzu. De Carlo wirkt vorfreudig und angespannt zu gleich. Sie lacht viel und erzählt begeistert von den Vorbereitungen: „Es war bemerkenswert, obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen sind, haben wir bemerkt, dass das was wir wollen ziemlich gleich ist: im Frieden leben! Mit der Familie oder engen Freund*innen. Vielleicht in der Natur oder mit Tieren, ganz einfach.” Ein Phänomen, das sie auch schon im vergangenen Jahr bei den Besucher*innen des FutureLeaks-Café beobachtet habe. Oder das, was ihr in Erinnerung blieb?
Schwarzes Loch für den Hass
Zurück im Zukunftscafé rauchen die Köpfe. Die Besucher*innen diskutieren in Kleingruppen und die Beamten lassen mit ihren Fragen nicht locker, bis jede Utopie zu einer Schlagzeile geworden ist. Wie in der Schule sitzen die Erwachsenen da und versuchen ihre eigenen Vorhaben für eine bessere Zukunft in fünf Schritten aufzulisten. Fünf konkrete Aufgaben für die Umsetzung ihrer Utopie in ihrem gegenwärtigen Leben und Handeln. Erst dann gibt es den Ausreisestempel aus der Transitzone dieser ungewöhnlichen Inszenierung. Untermalt wird das rätselhafte Treiben von einem spannungsgeladenen Klangteppich, sphärischer Musik. Tiefe Wasserwelt oder hallender Weltraum.
Mousa Alkam ist einer der Darsteller. Er begleitete schon im letzten Jahr die transitreisenden vermeintlichen Zuschauer*innen durch das Leck der Zukunft. „Eines der interessanten Dinge vom FutureLeaks-Projekt ist für mich, dass wir uns selbst Gedanken über die Zukunft machen mussten“, erklärt er. „Ich habe oft über meine eigene nachgedacht. Was könnte ich studieren, um eine gute Zukunft zu haben, zum Beispiel. Aber die Idee dieses Projektes ist es, über eine gute Zukunft für alle nachzudenken. Wie kann ich als Individuum Dinge verändern, die alle Menschen positiv beeinflussen?“
Alkam ist dieses Jahr der zuständige Transitagent für eine der Neuerungen der interaktiven Zukunftswerkstatt: die sogenannte Hate-Box. „Im letzten Jahr realisierten wir, dass wir in der Lage waren, die meisten Probleme unserer Gegenwart im FutureLeaks-Café zu lösen“, erläutert Alkam. „Aber es verblieb ein Hauptproblem: Leute nahmen ihren Hass mit in die Zukunft.“ Daher gibt es in diesem Jahr einen mit dunklen, schweren Tüchern abgeschirmten Raum, in den die Besucher*innen gebeten werden, wenn einer der Agenten bei ihnen Hass detektiert. Alkam interviewt Personen im Dunkeln zu den Ursachen ihres Hasses und stellt sie vor die Wahl, ihn durch ein schwarzes Loch loszuwerden. Die einzige Bedingung: komplette Ehrlichkeit. Eine Art Hass-Beichtstuhl.

Zukunftsschlagzeile. Quelle: FutureLeaks
“EU beschließt Liebesministerium”
Es sei nicht leicht, sich zum aktuellen historischen Zeitpunkt von globaler Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltkatastrophen eine positive Zukunft auszumalen, sagt Regisseurin de Carlo zum Ansatzpunkt ihrer Installation: „Wir wollen die Lösungen sichtbar machen und nicht vor Problemen verharren. Wir wollen eine Art Ideenschmiede für eine bessere Zukunft sein.“ Dabei sei der Witz, mit Metaphern von Informationsdiensten zu spielen. „Wir benutzen eine Struktur, die es ja schon gibt. Informationen werden normalerweise gesammelt um Leute auszuhorchen, zu spionieren oder um Kriege zu gewinnen. Wir wollen diese Strukturen mit etwas Neuem füllen, mit etwas Hilfreichem. Sie neu denken“, erklärt de Carlo.
Unzählige Schlagzeilen laufen an diesem Tag über den Flachbildschirm: „2040. Nach bedingungslosem Grundeinkommen nun vier Stunden Tag? Mehr Freizeit schafft glückliche Bürger*innen“, „Friedenshypnose ‘Hypodrom’ zeigt Wirkung: Empathie wird gefördert und sorgt für friedliches Miteinander“, „2018. EU beschließt Liebesministerium. Aktivitäten, die die Liebe fördern, werden staatlich subventioniert.“
Bis in den späten Abend sind die Aktionskünstler*innen bemüht, den rund 250 Besucher*innen des Future-Leaks-Cafés Handlungsempfehlungen mitzugeben. Selbst als das Bühnenbild Stück für Stück weggetragen wird, befragen die Beamt*innen in ihren blauen Hemden noch die Besucher*innen. Trotzdem bewegen sich die zu belauschenden Gespräche auf einem sehr abstrakten Level. Bei sich selbst anzusetzen, ist nicht die leichteste Übung. Der Besuch in der Zukunftswerkstatt ist anstrengend und dauert sehr lang. Aber er kann auch inspirieren, findet Lilly Strakerjahn. Sie trägt ein Tuch im Haar und einen Rucksack auf dem Rücken. Schon letztes Jahr hat sie die Kunstaktion besucht, besonders anders ist es diesmal nicht. Dennoch stellt sie fest: „Es ist spannend zu bemerken, wie vage unsere Vorstellungen der Zukunft sind. Viele Gedanken sind sehr schön, aber die konkreten Vorschläge oft nicht da”, sagt die Berliner Theaterpädagogin. „Die Inszenierung bringt zum Nachdenken. Gleichzeitig große Ziele für die Welt zu haben, aber auch konkret zu bleiben.“
Theater oder eine gut inszenierte Selbsthilfegruppe?
Das Foyer der Berliner Festspiele wird an diesem Tag zu einem Raum, in dem man seine Sorgen teilen und gleichzeitig mit Fantasie positiv in die Zukunft blicken kann. Beim FutureLeaks-Team trifft man dabei abwechselnd auf Strenge, Verständnis und vor allem viel Geduld. Brauchen wir für unsere Utopien einen künstlich geschaffenen Theaterraum? Ist diese vermeintliche Zukunftswerkstatt nur eine gut inszenierte Selbsthilfegruppe für Handlungslahme und Verkopfte aus privilegierten Positionen unserer Gesellschaft, die den Weg ins Theater finden? Therapie unter grünem Neonlicht?
„Theater möchte ich wie einen Übungsraum denken, in dem man Gesellschaft probt“, sagt de Carlo. Sie wolle mit ihrer Kunst eine Gelegenheit für den Dialog schaffen. Bei FutureLeaks geht dieser in eine ganz bestimmte Richtung: „Wir geben eine Spielanordnung vor und bieten an, mit uns dieses Spiel zu spielen.“ Ob das wirklich die Zukunft aller zum Besseren hin wendet, bleibt unklar. Aber FutureLeaks regt zur Selbstreflexion an und fordert Initiative. Möglicherweise brauchen wir dabei die Hilfe einer künstlichen Welt zwischen Gegenwart und Zukunft und gute Darsteller*innen, die in ihren Rollen aufzugehen scheinen. Den Begriff der Utopie nimmt die Inszenierung ernst und vielleicht tut es tatsächlich gut, sich einen Tag lang vorzustellen, dass in der Zukunft alles besser sein wird. Für alle.