Big Data, die Beeinflussung von Wahlen und die Frage, ob und wie Technik uns verändert, sind Themen, die häufig eher hysterisch diskutiert werden.
Ein interessanter Aspekt ist dabei die sich selbst erfüllende Prophezeiung – ein Aspekt, den man gerade in Bezug auf Cambridge Analytica ansprechen muss: Werden Techniken der Massendatenerfassung erst zu mächtigen Instrumenten, weil die Leute eben so gerne an solche “einfachen Erklärungen” und ihre eigene Ohnmacht glauben? Oder noch konkreter: Werden sie vielleicht erst deshalb wirksam, weil wir unser Verhalten unwillkürlich dem defizitären, eindimensionalen Bild von „Persönlichkeit” annähern? Einem Bild, das diese Algorithmen von uns zeichnen, sodass wir ihm immer mehr entsprechen, wodurch es wiederum zunehmend aussagekräftig wird?
Es gibt ein verwandtes Phänomen in der Astrologie: Nämlich, dass der Glaube, bestimmte uns zugeschriebene Charaktereigenschaften träfen auf uns zu, sie tatsächlich in uns verstärkt. Wer glaubt, er sei „tapfer“, „willensstark“ – wird der es auch?
“Menschen funktionieren in Gruppen gut, wenn sie vielfältig vom fiktiven Durchschnitt sind”
Das hieße im Konkreten, also dem schlechten Fall: Verwandelt nicht die Technik uns in Marionetten, sondern verhalten wir uns immer computerartiger, sodass Computer unser Verhalten immer besser vorhersagen können?
Jan Kalbritzer, Psychiater und Leiter des „Zentrums für Internet und seelische Gesundheit“ an der Charité Berlin, vertritt dazu folgende Perspektive: „Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Buch „The Taming of Chance“ des Wissenschaftstheoretikers Ian Hacking. Er beschreibt darin, wie wir durch die Nutzung von Statistik zu der Überzeugung gekommen sind, es gebe bei menschlichem Verhalten einen Durchschnittswert, der das Normale darstellt – und größere Abweichungen davon seien dann das Unnormale. Meiner Erfahrung nach entspricht das nicht der Realität. Menschen funktionieren in Gruppen gut, wenn sie vielfältig vom fiktiven Durchschnitt abweichen. Außer vielleicht beim Militär. Und das ist wohl auch einer der wichtigsten Gründe dafür, warum viele Menschen sich Fitnessarmbänder kaufen und versuchen, sich wie ein Algorithmus zu benehmen – und die Dinger nach einer Weile dann doch wieder wegschmeißen.”
Ist das Grundproblem, dass wir aufhören müssen, Technik nach dem kapitalistischen Prinzip zu gestalten? Leider ist zu bezweifeln, dass „Optimieren” nur etwas mit “Kapitalismus” zu tun hat. Was bei dieser Art der Kritik zu kurz kommt, ist die Frage nach der Möglichkeit von Fortschritt in einer Gesellschaft, die auf Wachstum – oder eben „Optimierung” – verzichtet. Ohne all das, ohne den „bösen“ Kapitalismus, ohne das Bestreben, immer effizienter zu werden, wäre das Internet vermutlich noch nicht einmal erfunden. Es gibt diesen schönen Witz: Was passiert, wenn der Sozialismus in die Wüste kommt? Zehn Jahre nichts, und dann wird der Sand knapp.
Ist unser Optimierungsdenken ein Reflex auf die Erfolge der Populisten?
Ferner sollten wir eine weitere Frage nicht unterschätzen: „Müssen“ wir aufhören, Technik nach dem kapitalistischen Prinzip zu gestalten? Sollten wir nicht zumindest auch skeptisch sein gegenüber diesem Kulturkritiker-Sprech, also was wir “müssen” oder “sollen“? Was wir machen, was wir können. Daran wird sich nichts ändern. Wir werden nicht durch “müssen” oder “sollen” vorankommen. Menschen lernen in der Regel nur aus Fehlern, die sie am eigenen Leib erfahren. Mit der Technik muss schon gründlich etwas schief gehen, damit wir ihre Funktionsprinzipien und ihre Rolle in unserer Zivilisation grundsätzlich überdenken.
Dennoch ist das Optimierungsdenken natürlich ein Problem. Vielleicht kann man in Teilen die Erfolge der Populisten als Reflex darauf erklären. Die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch” sind das Buch der Stunde, weil Dostojewski darin schon im vorletzten Jahrhundert diesen Punkt in den Fokus nimmt: der Mensch reagiert auf die totale Vernunft mit antirationalem Trotz.
Es bliebe zu ergründen, ob da was dran ist – aber es wäre zumindest mal eine Überlegung wert, ob die Ressentiments gegen die moralisch aufgeladene “linksliberale Mainstreampolitik” nicht auch etwas mit solchem wahnwitzigen Trotz zu tun haben. Man will einfach nicht von morgens bis abends gesagt bekommen, wie man sich korrekt zu verhalten hat. Punk war niemals so tot wie heute (am totesten ist er auf Seiten der Linken), er existiert nur noch als Twisted Zombie: Boris Johnson und Donald Trump sind solche Zombie-Punks. Trump redet einfach, was ihm als Haudraufspruch gerade in den Sinn kommt – und die Leute finden es so geil, wie es sie entsetzt.
Entweder wir schaffen uns ab oder wir rebellieren
Sowohl was die direkten gesellschaftlichen Auswirkungen des absolut gesetzten Vernunftprinzips in der Politik betrifft, als auch bezogen auf die mittelbaren Auswirkungen der technischen Realisation dieses Prinzips – also der Algorithmisierung unseres Daseins – gibt es zwei radikale Möglichkeiten: Entweder man schafft den Menschen ab (zumindest philosophisch, indem man das Menschenbild grundlegend revidiert), um in Ruhe systemtheoretisch steuern zu können. Oder aber der “alte” Mensch rebelliert erfolgreich. Im besten Fall führt letzteres zu einer Gesellschaft, die sich aus der Not heraus tatsächlich auf eine neue Nutzung von Technik besinnt. Im schlimmsten Fall bringt es uns autoritäre Staaten mit “starken Führern”, wenn sich der dumpfe Zerstörungswille durchsetzt – also sich machtvoll politisch manifestiert.
Hoffen kann man vielleicht darauf, dass es zwar zu einer Revision des Menschenbildes kommt, die aber zugleich neue Formen der Widerspenstigkeit, der Sabotage des allzu reibungslos laufenden Systems hervorbringt. Vielleicht werden sich die Datenpunkte, in die sich das Individuum zur Zeit aufzulösen scheint, schneller als manch einem Silicon-Valley-Milliardär oder autoritärem Politrambo lieb ist, in glitzernden Sand im Getriebe verwandeln.
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