Stimmen zum digitalen Wandel
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“Bereicherung macht abhängig”

Gordon Gieseking, 34, ist Inhaber des Musiklabels Project Mooncircle, Vertriebsmanager bei hhv.de, Moderator bei NTS Radio, DJ, Illustrator und Dozent für Musikmarketing an der UdK Berlin.

Kulturschwarm: Wie häufig schaust du täglich auf dein Smartphone?
Gordon Gieseking: Boah (lacht)… Schon oft. Eigentlich ständig. Bestimmt 300 Mal am Tag.

Was zeigt die Startseite deines Smartphones?
Da ist das Logo meines Labels, aber abgewandelt: Es sind die Köpfe von einigen unserer Künstler zu sehen, sowie mein eigener. Das stammt von einem Mix, den wir mal gemeinsam gemacht haben.

Wann bist du zum ersten Mal mit dem Internet in Kontakt gekommen?
Ziemlich zeitig, denn ich wollte dieses Internet so schnell wie möglich haben! Das war im Haus meiner Eltern, da hatten wir ein Modem. Also bin ich mit dem Internet Explorer von Windows 98 das erste Mal ins Internet gegangen und dann zu Sandbox Automatic, das war so eine HTML-Seite, wo man Platten bestellen konnte. Ich wollte über das Internet unbedingt Platten bekommen, die es in Deutschland nicht gab.

Wie hat die Digitalisierung deine Arbeit geprägt?
Sie hat mich bereichert, macht meine Arbeit vielfältiger, wir erreichen viel mehr Zielgruppen, sind schneller in Kontakt mit Menschen und in Berührung mit deren Arbeiten. Man hat immer die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Ich bin rund um die Uhr erreichbar und das möchte ich auch sein für meine Künstler und für das, was ich liebe. Aber das beeinträchtigt natürlich schon mein Leben in einem negativen Sinn, insofern, dass ich vieles gar nicht mehr so richtig wahrnehme und genieße, wie ich das früher wahrscheinlich gemacht habe. Mittlerweile kann ich mich nämlich kaum noch erinnern, wie’s eigentlich ohne die digitale Welt war.

Wohin führt uns das Digitale – in die absolute Freiheit oder in die absolute Abhängigkeit?
In die Abhängigkeit. Umso mehr Positives es schafft, desto abhängiger werden wir natürlich. Wenn es das alles jetzt auf einmal nicht mehr gäbe, würde sich meine Arbeit um einiges verlangsamen, ich würde nicht mehr richtig funktionieren und wahrscheinlich irgendwie unglücklich werden – und das zeigt mir, wie abhängig ich bin.

Das definiert auch den Zustand der Musikbranche. Wie würdest du den derzeit beschreiben?
Das ändert sich ja ganz oft. Momentan ist alles digital und ziemlich oberflächlich. Das Konsumverhalten ist leichtfüßig: Wir rennen ins Berghain und tanzen die ganze Nacht, mitunter ohne zu wissen, was da eigentlich gespielt wird. Da ist wichtiger: Wie sehe ich aus? Was ziehe ich an? Wie schmink ich mich, wie mach ich meine Haare? Bin ich attraktiv? Darauf wird momentan sehr viel Wert gelegt und nicht mehr auf die eigentliche Frage: Wie einzigartig bin ich? Das spiegelt sich auch in der Musikbranche wieder. Das war nicht immer so. Während die jungen Leute heute hauptsächlich fertige Youtube- oder Spotify-Playlisten hören, gab es früher mehr den Drang, Musik zu finden, die kein anderer hört und die dann mit dem besten Freund gemeinsam zu erleben. Da ist man in den 90ern noch in Plattenläden gegangen und hat nach White-Labels geschaut oder nach Platten, die illegal gepresst wurden. Das hat sich verändert, aber das ist völlig natürlich. Es gibt Zeiten, in denen ganz viel passiert und es gibt Zeiten, in denen es sehr stagniert und in denen dann auch der Zuhörer einfältiger wird.

Du bist ein Dozent, der selbst nie studiert hat. Inwiefern kann man das, was du machst, überhaupt lernen, und was muss man mitbringen, um Erfolg zu haben?
Die Musikszene ist sehr emotional, deswegen kann man das gar nicht so wissenschaftlich beschreiben. Aber ja, das kann man auf jeden Fall lernen. Ich habe Stunden, Wochen, Monate, Jahre damit verbracht, mir selbst Dinge beizubringen. Ich wollte keine Hilfe von anderen annehmen, sondern alles selber machen können. Als Photoshop herauskam, hab ich mich eben damit auseinander gesetzt, denn ich wollte ja eigene Flyer und Cover-Artworks und Zeichnungen digitalisieren und wenn es darauf ankam, Logos auf T-Shirts zu drucken, naja, dann musste ich mir einfallen lassen, wie ich das vektorisiere. Also ging es mit Illustrator weiter. Und das mache ich heute noch so. Man braucht also Ehrgeiz, einen überdimensionalen Drang, seine Träume und Wünsche erfüllen zu wollen, man sollte visionär sein, verrückt, und damit leben können, dass man überwiegend in einer gewissen Einsamkeit ist. Man muss sich immer wieder neu erfinden und das auch beherrschen. Und frech muss man sein. Und sich nicht unterkriegen lassen. Man darf einfach kein Weichei sein. Da bleibste auf der Strecke.

Fotos: Michael Clemens, Gordon Gieseking (Screenshot).

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