Kollisionen, Raum
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Die Kantstraße

Kantstraße Semesterprojekt Universität der Künste © Elena Berchermeier, Eleonora Renn

Die Kantstraße liegt geografisch genau zwischen zwei Standorten der UdK. In einem Semesterprojekt wird die Kantstraße auf unterschiedlichste Art und Weise portraitiert.

Zwischen Breitscheidplatz und Suarezstraße verläuft eine der wichtigen Achsen des Berliner Westens, die Kantstraße. Sie liegt geografisch genau in der Mitte zwischen zwei Standorten der UdK, der Hardenbergstraße und der Bundesallee. Aus diesen beiden Einrichtungen treffen sich Studierende des Kulturjournalismus und der Bildhauerei, begleitet von den Professorinnen Annett Gröschner und Ina Weber, um ein Stück gemeinsam auf der Kantstraße zu spazieren und ihre Geschichte und Gegenwart zu erforschen, Chinatown und das russische Charlottengrad, Amtsgericht und Gefängnis, Stadtmobiliar, Kinos und Theater, die ehemaligen Ateliers der Bildhauer, das Leben auf den Fußwegen und in der Paris-Bar oder in den uralten und brandneuen Geschäften, Hotels und Gaststätten.

Snapshots entlang der Buslinie M49

Zehn Stationen der Buslinie M49 entlang der Kantstraße. © Eleonora Renn

1: Joachimsthaler Straße/Kantstraße

  • Die Gedächtniskirche, die ihre Mütze verloren hat, pflichtbewusst den Breitscheidplatz bewachend, der von Tannenbäumen flankiert vor sich hin glühweint.
  • Die Straßenlaterne von blitzeblankem Silberglanz, die riesig, fremd und selbstgerecht aus dem Asphalt schießt.
  • Das Superdry Geschäft, vor dessen Schaufenster nass die Straße glänzt.

2: Uhlandstraße/Kantstraße (Paris Bar)

  • Die alte Dame mit schwarzem Baskenmützchen, die um vier Uhr nachmittags, kurz nach der Bestellung einer weiteren Flasche Rosé, ihrem Gegenüber, einem Mann mit ungesund ledriger Haut, in weinerlichem Ton von ihrer „neuen Narbe in der Fresse“ und ihrem „Luxustherapeuten“ erzählt.
  • Der mit sturmfester Gelfrisur in blauen Tweed gehüllte Macker, der den Kellner ignoriert und mit rotzfrechem Grinsen bei mir zwei Espresso bestellt. Und die wortgewandte junge Lady in eleganten, das Selbstbewusstsein fördernden Stilettos mit zart angedeutetem Schlangenprint, die ihm genauso frech grinsend zu verstehen gibt, dass es charmantere Wege gibt, um ins Gespräch zu kommen.
  • Die butterweiche Couch, die es gewohnt ist, die Allerwertesten der versnobten Berliner-Kunstszenen-Schickeria zu betten.

3: Savignyplatz

  • Der durch eine mit zahllosen Dellen übersäte Balustrade geschützte Grünanlagenstreifen, der Innen von Außen trennt, aber wen von was?
  • Die Frau, deren rotbestrumpfte Knie bollig herausragen und die fragt und doch die Antwort nicht hören will.
  • Ich selbst, die eingekesselt oder doch umarmt von Häusern und Geschichte auf diesem Platz steht, guckt, sucht, hofft und auf Dinge wartet, die vielleicht nie passieren werden.
  • Das Pärchen, das mit dem Selfie-Stick die Wiese betritt und sich, wild fotografierend, der kalten Nässe erfreut, während ihr Hund sich glücklich im Gras wälzt.
  • Das Schild zur Apotheke namens Wotan, das über den kleinen Park zur nächsten Häuserzeile zeigt, ohne Apotheke und ohne germanischen Gott in Sichtweite.

4: Schlüterstraße

  • Die zwei älteren Herren, die sich nach Ente süß-sauer auf der Bank vor dem China Restaurant Good Friends bei einer Zigarette über die kalten Temperaturen und Cholesterinwerte unterhalten.
  • Die goldbraun lasierten Bratenten, die regungslos im Schaufenster schweben, ihren müden Kopf um die Fleischerhaken schlängeln und ihre knusprige Haut vom warmen Licht bestrahlen lassen, während ihre Schnäbel erschöpft Richtung Boden zeigen.
  • Die großen Pho-Kessel, die hinter der Schaufensterscheibe stumm vor sich hin köcheln, heißen Dampf ablassen und alle zwei Minuten mit einer großen Alu-Kelle im Uhrzeigersinn umgerührt werden, um dann wieder stumm vor sich hinzuköcheln.

5: Kantstraße/Leibnizstraße

  • Die beiden schmalen, dunkelhaarigen jungen Männer, die aus dem Sexclub Mona (geöffnet von 10-5 Uhr) kommen und sich vor dem Spielsalon gegenseitig in der Pose des Mackers fotografieren, bis drei ebenso dunkelhaarige junge Frauen in Anoraks mit Kapuzenfell auf sie zutreten, um sie in einer fremden Sprache laut schimpfend zu ganz kleinen Jungs zu machen.
  • Die Leibniz-Apotheke, deren Wände mit den ausgestellten, nicht rezeptpflichtigen Medikamenten und der Aufschrift „Wir nehmen uns Zeit für freundlich-vertrauensvolle Beratung“ in Halbminutentakt die Farbe von Dunkelblau in Hellblau, Giftgrün, Grasgrün, Gelb, Orange, Rot, Pink, Lila und wieder zu Blau wechseln.
  • Unter den S-Bahngleisen die Bettstatt aus bunter Matratze, Schlafsack und zusammengerolltem Bettzeug, die verwaist, aber noch warm ist.

6: U Wilmersdorfer Straße/Kantstraße

  • Der graue Betonklotz in Form eines Legosteins, der inmitten der lebhaften Menschenmenge deplatziert und tot wirkt. 
  • Die Schaufensterplakate in stechendem Rot, die die letzten Tage des Schuhgeschäfts versinnbildlichen. 
  • Das Liebespaar, das händchenhaltend durch die Straße läuft und zwischen all der Anonymität seine Nähe zeigt. 
  • Die zwei Rentnerinnen, die nebeneinander in Zeitlupe ihren Rollator spazierenführen und dadurch die Menschenmenge entschleunigen. 

7: Kaiser-Friedrich-Straße/Kantstraße

  • Die Frau im roten Lackmantel, die, den Barber-Shop gemeinsam mit ihrem treudoof dreinschauenden Wachhund verlassend, den fiebrigen Feuerwehrleuten vor dem Orientcafé besorgte Blicke zuwirft.
  • Die süffisant-grinsenden Polizisten, die sich ihre Wartezeit vor dem Tabakladen versüßend, zwei kleine Jungs mit einer wild gestikulierend vorgetragenen Wegbeschreibung in die Irre führen.
  • Der mysteriöse Herr mit Fischermütze, der zügig mit seinem klapprigen Fahrrad in die Kantstraße abbiegend und dabei beinahe eine junge Fußgängerin umfahrend, ihr ein: „Ich wusste ja nicht, dass du losgehst!“ als Unmutsbekundung nachbrüllt
  • Der deutlich in die Jahre gekommene Mann, der unnatürlich gefärbte Haare hat und einem vorbeigehenden jüngeren Mann mit natürlichen und lange Haaren den Ratschlag gibt, zum Friseur zu gehen.

8: Amtsgerichtsplatz

  • Die beiden kleinen Kinder, die sich im Fahrradanhänger aneinanderkuscheln und aus einer Brotdose Möhren naschen.
  • Der Mann mit dem Pferdeschwanz und der schwarz umrandeten Brille, der im Möbelgeschäft “b3 – Objekte der Moderne” mit konzentrierter Miene mit einem orangefarbenen Stofftuch Staub von einem Stuhl wischt.
  • Die blonde Frau, die stolz einen winzigen Weihnachtsbaum in einem weißen Korb auf dem Arm vor sich herträgt. 
  • Die Designer- und Second-Hand-Mode, die sich wenig glamourös und ungeordnet neben weißen Porzellankatzen im Schaufenster stapelt.

9: Kuno-Fischer-Straße

  • Ein breiter See mit klarem, reflektierendem Wasser, der umgeben von dichter Vegetation Löcher an seinem Mund hat.
  • Ein kleiner, leerer Mülleimer, der an der Ecke auf dem Boden liegt.
  • Der Himmel, der grau ist und keine Wolke, die irgendeine Form gibt.

10: Station Messe Nord

  • Der Dönerverkäufer, der während er das Fleisch am Spieß schneidet, grinsend und schwitzend die Menschen beobachtet, die in der Kälte auf den Bus warten müssen.
  • Der alte Mann mit Baskenmütze, der von einem eingehenden Telefonat abgelenkt, viel zu viel Zucker in seinen türkischen Tee schüttet und sich darüber ärgert.
  • Das übertrieben neonbunte 24/7 Spätkauf-Schild, das den ganzen Tag vor sich hin blinkt, aber keinen Sinn hat, außer die Stromkosten des SpätiBesitzers zu erhöhen.
  • Die ältere Touristin, die mit dem Finger auf den Funkturm deutet und frustriert zu ihrem Ehemann sagt: “Da ist Paris aber wesentlich besser aufjestellt als Berlin”.
  • Die S-Bahn-Station Messe Nord/ ICC, die aus zwei, durch Gleise getrennten Gebäuden unterschiedlicher Entstehungszeit besteht, und deren jüngerer, in den siebziger Jahren im Stil des Modernismus gebauter Teil in einen Tiefschlaf gefallen zu sein scheint.
  • Die Neue Kantstraße, die vom Himmel aus gesehen mit ihren sich kreuzenden Fahrbahnen, Ring- und Fernbahngleisen sowie Autobahnspuren wie eine Brücke über eine Wasserstraße wirkt.

 

Katja Andreae, Elena Berchermeier, Charlotte von Bernstorff, Benjamin Freund, Annett Gröschner, Younggeung Kim, Christopher Land, Isabella Nadobny, Eleonora Renn, Mario Saravanja, Lena Völkening, Georges Waked, Kirsten Wilmes

 

Titelfoto: Elena Berchermeier, Eleonora Renn

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