Raum
Schreibe einen Kommentar

No Torte for Old Men

2013-12-19 14.35.40

Früher Abend: Entdeckungsreise an der Sonnenallee

„Ring 42 über Ostkreuz. Zurückbleim bitte.“, knarrt es aus dem Lautsprecher, bevor die S-Bahn quietschend Richtung Osten abfährt. Früher durfte sie dort gar nicht hin, da war Mauer und die Züge drehten hier wieder um nach Westen. Aber jetzt steht einem von der Sonnenallee aus ganz Berlin offen. Eine Stunde braucht die Ringbahn, um einmal die Kernstadt zu umrunden. Ost und West. Man setzt sich rein und steigt aus, wenn es draußen interessant aussieht. An der Sonnenallee also eigentlich nicht.

Nur noch Fassade

Jetzt bin ich trotzdem da und prompt enttäuscht: „Berlin’s einzigste Konditorei dieser Art“ gibt es nicht mehr. Vom Tortenversand Manske ist nur noch die Fassade mit der markanten Aufschrift übrig – inzwischen voller Graffiti und mit herunter gezogenen Fenstergittern. Tritt man aus dem S-Bahnhof Sonnenallee ins Freie, läuft man direkt auf die Konditorei zu. Zwei sichtlich angeschwipste, ältere Männer stehen davor und schauen auf die Menschentraube, die sich aus dem Bahnhof herausdrängt. „Sie sind die mit der Kamera.“, sagt der Linke zu mir. „Ja“, sage ich. Und: „Wie lange gibt’s denn den Tortenversand schon nicht mehr?“

„Ach der“, sagt der Rechte, „ist hier schon ein paar Jahre nicht mehr.“ Schade, denke ich, aber wenigstens gibt’s noch die alte Homepage. Schaurig-schöne Beispieltorten: Jubiläen (rotes Warsteinerlogo aus Marzipan), Schulabschluss („Benjamin-Fränklin-Realschulen“) oder Vereinstorte Nr.2 (FC Bayern, mehrstöckig). Gerne auch frivole Motive.

2013-12-09 09.23.14

Hier gibt’s nur noch nette Gespräche mit älteren Männern

Früh- und Spätschoppen am S-Bahnhof

„Danach war hier ein Zauberladen, aber der ist dann da hinten hin. Besserer Mietvertrag.“ Der Linke nickt zustimmend. Hmhm. „Ja, so was Blödes, dass der Fritz schon tot ist. Dem gehörte die Trinkerstube da drüben im Bahnhof, der wusste über alles Bescheid. Aber den könnense jetzt nicht mehr fotografieren.“

Heute ist Fritz’  Trinkerstube ein asiatischer Imbiss. Aber heimatlos sind meine Informanten nicht. Es gibt ja noch die „S-Bahn-Klause“ (Frühschoppen bis 17 Uhr) und „Zum S-Bahnhof Sonnenallee“ (Spätschoppen bis Ende). Und das Café Geschwister Nothaft, wo man fairen Kaffee und viele Werbeleute mit Macbook trifft. Der pinke Sonnenschirm beeindruckt die Männer wenig. Und überhaupt: „Da war früher mal son Reptilienladen, da hab ich ne Vogelspinne gekauft. Daneben war ein Bäcker, aber da gab’s Ratten.“

Dieser Platz war früher vielfältiger als heute. Von links nach rechts bilanziere ich: Eine Kneipe, das hippe Café, noch eine Kneipe, ein City-Casino, ein Dönerladen, ein arabischer Kiosk. Daneben war früher ein Zierfischladen, aber den gibt es leider auch nicht mehr. Ein bisschen langweilig, finde ich, und werde neidisch auf die beiden, die die Gegend noch mit interessanteren Inhabern kannten. Denn wenn ich heute dringend eine Vogelspinne, eine mannshohe Hertha-BSC-Torte und einen Kofferfisch brauche – wo soll ich da suchen? Jetzt ist es sowieso schon zu spät am Abend. Das Gute ist aber: Egal wo sich die Sachen in Berlin verstecken, mit der Ringbahn geht es von der Sonnenallee aus ganz schnell.

 

 

Noch mehr seltsame Torten gibt es hier.

Noch nie einen Kofferfisch gesehen? Bitte hier entlang.

 

FacebooktwitterFacebooktwitter
Kategorie: Raum

hat viel studiert, viel gesungen, Wasservögel gerettet und einen Abschluss in Biologie und Französisch. Weiß Bescheid über niedliche Tiere, Johann Sebastian Bach und Guillotinen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert