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Das Haus der vielen Namen

Die Mauern der ehemaligen jüdischen Mädchenschule in Berlin-Mitte haben in ihrer mehr als 80-jährigen Geschichte viel gesehen. In den vergangenen Jahren ist das Gebäude zu neuem Leben erwacht.

In der Auguststraße, mitten im kreativen Epizentrum von Galerien, Showrooms und Cafés, liegt ein Gebäude, das mit seiner breit gelagerten, düsteren, strengen Fassade die Häuserfront dominiert. Lange Jahre träumte der stille Bau, beklebt mit Plakaten und Ankündigungen, verschlossen und mythenumwoben vor sich hin – von den meisten Passanten schlicht ignoriert.

Man würde vielleicht nicht auf den ersten Blick auf die Idee kommen, dass der wie ein Industriegebäude anmutende Klinkerbau einmal eine Schule war. Dennoch befand sich hier, in der Auguststraße 11-13, einst die Jüdische Mädchenschule Berlin. Das Haus kann viele Geschichten erzählen, wenn man richtig zuhört – Geschichten von Schulfreundschaften, Gelächter und dem Tapsen kleiner Füße, aber auch von Tränen, tragischen Abschieden, einer atmenden Leere, von Wandel und Anpassung. Heute beherbergt das Gebäude Kunstgalerien, ein Museum und Restaurants.

Ein Blick in den Hof der Schule im Jahr 1931 (Foto: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau)

Ein Blick in den Hof der Schule im Jahr 1931 (Foto: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau)

Endstation Konzentrationslager

Der viergeschossige, L-förmige Bau mit seinen die Fassade gliedernden Querbändern und einem monumentalen, kathedralenartigen Kopfbau wurde 1927-28 im Stil der Neuen Sachlichkeit von dem damaligen Baumeister der Jüdischen Gemeinde, Alexander Beer, errichtet. Es war einer der letzten Neubauten vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Schülerinnen zwischen 6 und 13 Jahren, die hier ein und aus gingen, waren arme Mädchen oder Waisen aus dem benachbarten Kinderheim Ahawa (hebräisch für Liebe).

Mit 14 Klassenräumen, einer Turnhalle, einer Aula, einem großen Zeichensaal und einem Handarbeits- und Physikzimmer war es eine relativ kleine Schule. Die Räume waren allerdings groß und hell, die Flure geräumig. Die Schule war ab 1933 von den Einschränkungen und Repressalien der Nationalsozialisten betroffen und musste 1942 schließen. Die meisten Schülerinnen wie auch der Architekt Alexander Beer wurden in Konzentrationslager gebracht. Alexander Beer starb 1944 in Theresienstadt.

Bertolt Brecht im Erdgeschoss

Während des zweiten Weltkriegs wurde der Bau als Krankenhaus genutzt. Zu DDR-Zeiten wurde er zur Polytechnischen Oberschule „Bertolt Brecht“, wovon noch heute ein großes schwarzes Porträt des Dichters im Erdgeschoss zeugt. Nach der Wiedervereinigung wurde das Gebäude durch die 2. Gesamtschule des Bezirks Berlin-Mitte fortgeführt, bis sie wegen Schülermangels 1996 schließen musste.

In diesem unbenutzten Zustand verharrte das Gebäude zehn Jahre. Dann, im Jahr 2006, suchte das Ausstellungshaus Kunst-Werke Berlin, das schräg gegenüber in der Auguststraße 69 residiert, Orte für die 4. Berlin Biennale. Unter dem Titel „Von Mausen und Menschen“ konzentrierten sich die Kuratoren Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick im Rückgriff auf die frühen, von Klaus Biesenbach kuratierten Ausstellungen über die Orte rund um die Auguststraße und bezogen auch alte Wohnungen, Laden und Stallungen mit ein. „Da verschiedene Gebäude der Jüdischen Gemeinde direkt gegenüber den Kunst-Werken liegen, war es naheliegend, diese mit dem Kuratoren-Team zu besichtigen. Am Ende kam nur die ehemalige Mädchenschule in Frage“, erinnert sich Renate Wagner, die in der Projektleitung der Berlin Biennale arbeitet. Nach einigen Auflagen, insbesondere die Sicherheit betreffend, stimmte die Jüdische Gemeinde, die das Gebäude 2009 im Zuge eines Rückübertragungsdeals erhielt, der Nutzung des Gebäudes zu.

Ein Comeback zur Biennale

Damit war der Ort für die Kunst erobert. Der morbide Charme der verlassenen Räume mit der herabblätternden Farbe, den verbliebenen Schuleinbauten und der historischen Konnotation hat nicht nur die Kuratoren begeistert – und machte die Jüdische Mädchenschule damit zum legendären Hauptort der überaus erfolgreichen Kunstausstellung. Der Auguststraßen-Mythos, entstanden aus der bewegten Berliner Kunstszene unmittelbar nach der Wende, bezog nun auch nahtlos den bis dahin übersehenen, geschichtsträchtigen Bau der Mädchenschule mit ein. Auch der Galerist Michael Fuchs verliebte sich 2006 während der Biennale in das Gebäude. „Als ich hörte, dass die Jüdische Gemeinde das Gebäude öffentlich ausschreibt, habe ich mich mit einem Konzept für die Nutzung beworben.“ Nach einigem Hin und Her und Abstimmungen innerhalb der Gemeinde pachtete er das Gebäude für die nächsten 20 Jahre mit Option auf weitere zehn Jahre.

Den Auftrag für den Umbau hat das Berliner Architekten Grüntuch Ernst erhalten. Ihr Büro liegt in der Auguststraße 51, ein Steinwurf entfernt von der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule. Aufgrund der Nachbarschaft hatte der Auftrag für Almut Grüntuch-Ernst, deren Team die Restaurierung geplant und innerhalb von neun Monaten durchgeführt hat, auch eine emotionale Ebene – unabhängig von der architektonischen Qualität des Baus, den sie als „reformpädagogisch und progressiv“ bezeichnet. Eines der Hauptziele der Restaurierung war daher, die besondere Aura des Gebäudes und der Geschichte zu erhalten. Im Februar 2012, parallel zur Berlinale, wurde das Haus offiziell eröffnet.

Die Straßenansicht der Mädchenschule (Foto: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau)

Die Straßenansicht der Mädchenschule (Foto: Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau)

Von der Mädchenschule zur Kultur-WG

Ihr Vorgehen bezeichnen Grüntuch Ernst als „minimal invasive Restaurierung“. Da das Gebäude unter Denkmalschutz steht, war für die Architekten vieles vorgegeben, sogar die Farbe der Fenster. Eine der schwierigsten Aufgaben, vor allem wegen der neuen strengen Brandschutzauflagen, war, alle Galerien und das Museum mit Glastüren ausstatten zu dürfen. Aufgrund des vielen Glases, das die großen Fensterflachen aufgreift, wirkt das Gebäude trotz mehrerer Geschosse und Unternehmen wie ein einziger fließender Raum. „Es war wichtig, dass das Haus ein Kunsthaus wird, wo einzelne Aktivitäten miteinander erlebt werden können“, so Almut Grüntuch-Ernst.

Ein „Ort für Kunst und Esskultur“ sollte hier nach Willen des Galeristen Michael Fuchs entstehen. Er hat versucht, nicht nur für seine Galerie, sondern für das ganze Gebäude die passenden Leute für eine Kultur-WG zusammenzustellen“, beschreibt es Almut Grüntuch-Ernst. Außer der Michael Fuchs Galerie sind heute die CWC Gallery, das EIGEN ART + Lab von Gerd Harry Lybke, der seine Galerie wenige Meter weiter in der Auguststraße betreibt, das Museum „The Kennedys“ und die Restaurants Pauly Saal, und Mogg & Melzer in dem Haus untergekommen.

„The Kosher Classroom“, ein Teil des Restaurants Pauly Saal knüpft bewusst an die ursprüngliche Hausnutzung an und vermittelt mit Tafeln und ausgestopften Tieren das Gefühl, in einem Klassenzimmer zu speisen.

Geschichte und Kunst unter einem Dach

Für Michael Fuchs, der im obersten Geschoss auch seine Privatwohnung hat, ist die Geschichte des Gebäudes allein durch die räumlichen Gegebenheiten stets präsent: „Wir haben viele Besucher, die nicht nur der Kunst oder des gastronomischen Angebots wegen kommen, sondern vor allem, um sich das Gebäude anzusehen – weil sie vielleicht einmal Schüler hier waren und es spannend finden, was daraus geworden ist. So trägt sich die Geschichte von außen in und durch das Gebäude.“ Außerdem gibt es im Erdgeschoss einen Bereich, in dem die Geschichte der Schule und des Gebäudes in Bild und Text dokumentiert wird.

Zwar rennen heute keine Kinderfüße mehr durch die Flure, aber das eifrige Gedränge von Kunstliebhabern erfüllt die Gänge mit Leben. Geschichte und Kunst sind unter einem Dach zu Hause und werden zumindest für die nächsten drei Jahrzehnte von einer harmonischen Verbindung erzählen. Ob die Jüdische Gemeinde in ferner Zukunft im Gebäude wieder eine Schule gründen oder etwas anderes mit dem Haus machen wird, weiß man heute noch nicht. Aber dass diese Option offen gehalten wird, ist für Almut Grüntuch-Ernst eine tröstende Aussicht.

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Kategorie: Raum

Mithila Borker kommt aus Indien. Sie wuchs in Goa (ein kleines jedoch schönes Bundesland in Indien) auf und studierte danach Anglistik in Pune (Indien). Sie hat freiberuflich als Schreiberin für eine Webseite gearbeitet sowie ein Praktikum bei der indischen Zeitung 'The Times of India‘ gemacht. Nach dem Studium lernte sie Deutsch und bewarb sich an deutschen Universitäten. Im September 2011 bekam sie einen Studienplatz an der UdK. Mithila schreibt und bloggt sehr gern und will eines Tages eine berühmte Autorin oder Kolumnistin werden.

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