Ost*Berlin
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Vom Suff und dem Sinn des Lebens

Robert Paris auf dem Parochial Friedhof in Berlin. (Foto: Linda Gerner)

Der Ostberliner Fotograf Robert Paris wird nach dem Mauerfall nicht glücklich in seiner Heimatstadt. Sein Weg führt ihn über Industriebauten, lärmende Bars bis nach Indien.

Der Mauerfall bringt Leere in das Leben des ehemaligen Ostberlin Fotografen Robert Paris. Ein Neuanfang, eine plötzlich größer gewordene Stadt. Wege, die in seiner Kindheit und in seiner Jugend immer blockiert waren, sind offen. Der Besuch in Westberlin ist nicht länger nur ein Wunschszenario. Viele jubeln, Robert Paris ernüchtert es schnell.

Als fotobegeisterter Jugendlicher verbringt Paris in Ostberlin viel Zeit auf Industriegeländen und Bahnhöfen. Stundenlang fotografiert er diese Orte, am liebsten in der Einsamkeit. Einen dieser menschenleeren Orte, wählt er als Treffpunkt aus. Auf dem Parochial Friedhof in der Greifswalder Straße macht er im Alter von fünfzehn Jahren sein erstes Foto. Heute schaut er an einem sonnigen Nachmittag auf den grün leuchtenden Friedhof und erzählt mit seinem starken Berliner Dialekt von der Veränderung seines Lebens und seiner Heimatstadt nach dem Mauerfall: „Nach der Wende, waren an all meinen Orten plötzlich welche“, sagt Paris. „Zum Beispiel im Tacheles, da war vorher nie jemand.“ Im Sommer nach der Wende hätten ihn in der Ruine des alten Kaufhauses in der Oranienburger Straße, damals eins seiner liebsten Fotomotive, ganze Gruppen empfangen: „Die meinten zu mir: ‚Was willst du hier?‘ Ich sagte: ‚Na, das ist meins‘, und sie meinten: ‚Nee. Raus hier.‘ Die haben mich rausgeschmissen aus meiner Stadt.“ Robert Paris zuckt mit den Schultern. Mit „die“ meint er ‘Wessis’ und er meint Westeinflüsse allgemein. Sie verändern sein Ostberlin.

Den Ur-Berliner hört man in jedem seiner Sätze

Verbitterung hört man in Paris Stimme nicht. Er scheint es zu genießen, seine Erinnerungen an Ostberlin zu teilen, wird dabei aber nie schwermütig. Wie er über den Friedhof spaziert mit seinem kleinen Rucksack, dem blauen weitem Hemd und bequemen Laufschuhen könnte der heute 56-Jährige auch als Tourist durchgehen. Wenn er bei fast jedem Namen, den er auf den Gräbern liest, die Geschichte einer Ostberliner Familie erzählen kann, verflüchtigt sich dieser Eindruck in Sekunden.

Robert Paris wurde in Prenzlauer Berg geboren und ist der Sohn der Fotografin Helga Paris, die durch ihre Porträts und Modefotografie in Berlin bekannt wurde. Wie verliert jemand, der das Fotografieren von klein auf kennenlernte und liebte, der Ausstellungen und Bücher mit seinen Ostberliner Fotos füllte, das Interesse daran? Es habe ihn einfach nicht mehr gereizt, die Stadt zu fotografieren, sagt Paris heute.

Sein Freundeskreis, eine verschworene Gruppe Ostberliner Jugendlicher, löst sich nach der Wende langsam auf. In Ostberlin veranstalten sie Modeschauen, leben sich künstlerisch-kreativ aus und haben gemeinsam, dass sie manchmal gegen ihre Eltern und immer gegen den Staat rebellieren. In den Wendejahren wird etwas für sie Unvorstellbares Realität. Dadurch, dass es den Staat und die Mauer nicht mehr gibt, fehlt etwas. Die Gemeinsamkeit nicht rüber zu können. Manche ziehen weg, andere merken, dass in vielen Lebensbereichen Neuorientierung angesagt ist. Doch wie schafft man diese von einem Tag auf den anderen?

“Geld ohne Ende”

Als Robert Paris im Frühjahr 1990 von einem Freund gefragt wird, ob er in seiner neu eröffneten Bar aushelfen kann, nimmt er es dankend an: Bier ausschenken statt fotografieren, für den damals 27-Jährigen eine attraktive Veränderung. Doch eine Hightech-Kaffeemaschine? Eine riesige Auswahl an Spirituosen? Erdinger Weißbier? Lärmende Westberliner rufen in der Bar nach Jägermeister. Damit ist Paris nicht vertraut: „Ich kannte nur aufgebrühten Kaffee. Das musste ich alles erst mal lernen.“

Trotz anfänglichem Chaos gefällt ihm die Arbeit in der Silberstein Bar in der Oranienburger Straße. „Das ist immer das Beste, wenn man ins Wasser rein springt und einfach drauf los schwimmt.“ Mit heutigen Barjobs sei seine Arbeit damals nicht vergleichbar. Während die Menschen jetzt jeden Euro zweimal umdrehten und nur zögerlich ein zweites Getränk bestellten, hätte das Geld zu Wendezeiten locker gesessen: „Die hatten alle Geld ohne Ende.“ Zweihundert Mark Trinkgeld am Abend sei keine Ausnahme, sondern die Regel gewesen: „Man hatte zu Ostzeiten immer die Mentalität, dass das Geld, was man hat, auch ausgegeben wird. In den Bars wurde die Ostmentalität weitergelebt.“

Während es heute komplizierte Kassensysteme mit Fingerabdrücken und Codes gibt, diente für die Einnahmen damals ein einfacher Karton. Man habe sich ja vertraut und hatte einer mal kein Geld mehr für ein Bier, wurde ihm eben eins geschenkt, so Paris. Anekdoten wie diese erzählt er schneller, seine Stimme wird etwas lauter. Die Arbeit in der Bar sei familiär gewesen, man kannte die meisten Kunden und „die ganze Nacht war Zirkus, Suff ohne Ende, besser ging’s gar nicht.“ Robert Paris lacht und schlägt mit der Hand auf sein Knie.

“Man lebte nur noch nachts”

Doch so sehr ihn die Arbeit anfangs euphorisiert, zieht sie ihn irgendwann runter: „Man lebte nur noch nachts“, resümiert Paris. „Morgens halb zehn ist man raus aus der Bar, die Sonne brüllte einen an, die Augen taten weh, man war völlig verräuchert, käseweiß und wollte nur noch ins Bett. Abends um sieben ist man wieder aufgestanden, schnell ‘ne Bockwurst mit Schrippe gegessen und wieder ab ins Dunkle. Aufblühen für die Nachtwelt.“

Seltsame Nachtgestalten bilden seinen Bekanntenkreis, ein ständiges „Oh Boy“-Gefühl bestimmt sein Leben, sagt Paris. Der Film mit Tom Schilling aus dem Jahr 2012, in dem der Protagonist ziellos durch Berlin streift, würde ihn an die Zeit damals erinnern. „Immer in den Tag reinleben, mal was essen, wieder in die Bar, künstliche Bespaßung, viel Suff.“ Ein Leben hinter und an der Bar, die Übergänge dabei schleichend: „Irgendwann dachte ich: Kann doch nicht sein, dass das jetzt alles ist.“

Er trinkt viel zu der Zeit, heute reflektiert er, es war zu viel. „Ich hab‘ dann entschieden: So geht es nicht weiter“, sagt Paris. Das erzählt er, ohne Blickkontakt zu suchen, er schaut auf seine Hände, dann auf die Gräber des Friedhofs.

Während eines gemeinsamen Barbesuchs erzählt ihm ein Freund Weihnachten 1995, dass er nach Indien fährt. „Das war unbewusst der Strohhalm, nach dem ich gesucht hab“, sagt Paris. Kurzerhand besorgt er sich ein Visum und ein Flugticket und kommt mit. Er bleibt vier Wochen und hat bei seiner Rückkehr einen neuen Blick auf Berlin. Ihn zieht es erneut nach Indien, doch seine nächste Reise dauert mehrere Monate. Er tauscht sich mit Menschen aus, die in das Land ausgewandert sind, spricht lange mit einem Muslim über seinen Lebensentwurf und über den Islam. Als er wieder zurück in die Hauptstadt kommt, beschließt er nicht mehr zu trinken, seine Jobs in Kneipen aufzugeben und stattdessen in der Museumstechnik zu arbeiten. Eine glückliche Fügung, sagt Paris heute, dass er durch Zufall direkt einen neuen Job bekommt.

Es dauert noch ein paar Jahre bis Robert Paris seine Koffer packt und nach Indien zieht. Er konvertiert zum Islam. Über eine Annonce, die er in einer Zeitung schaltet, lernt er seine spätere Frau kennen. Seit über zwanzig Jahren lebt er jetzt mit ihr und der gemeinsamen Tochter in einem kleinen Haus mit Hühnern und Selbstversorgergarten in Kerala. Der ehemalige Ostberliner Rebell ist Familienvater, aus dem Atheisten wurde ein gläubiger Muslim und statt als Fotograf zu arbeiten ist er Museumstechniker und Hausmann. Wie weit entfernt erscheint ihm wohl sein Leben als Ostberliner Jugendlicher, der gegen den Staat rebellierte?

Wenn man Robert Paris lebendig erzählten Geschichten zuhört, ist diese Zeit noch ganz nah. Mindestens einmal im Jahr ist er für mehrere Monate in Berlin. Er verdient hier das nötig Geld für Indien, seinen Lebensunterhalt. „Ganz raus klappt doch nie, auch wenn RTL das mit der Würstchenbude auf Mallorca vorgaukeln will“, sagt Paris. Berlin bleibt seine Heimat, doch die eigene Ziellosigkeit nach der Wende hat er zurückgelassen und Indien zu seinem Zuhause gemacht.

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