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Verrauschter Rausch

Musikerin Róisín Murphy dreht mittlerweile auch ihre Videoclips selbst.
Vielseitige Künstlerin: Róisín Murphy (Foto: Mark Farrow)

Musikerin Róisín Murphy dreht mit dem Video zur Single „All My Dreams“ eine Ode an die Techno-Seligkeit der 90er-Jahre. Unser Autor Simon Rayß hat sich herangewagt an einen Clip voller Partypeople in Ekstase.

Die Bilder rauschen ineinander, laufen mal vorwärts, mal rückwärts. Die Formen verschwimmen, fransen aus. Mit HD hat das Video zu Róisín Murphys „All My Dreams“ nichts zu tun und auch kein Herumklicken in den Streaming-Einstellungen kann daran etwas ändern: Die VHS-Optik bleibt. Schwarze Ränder links und rechts, dazu Einblendungen von Schriftzügen, die aussehen, als wären sie am Heimcomputer programmiert.

Die Bildebene verrät es: Hier soll es zurückgehen in die Vergangenheit, zur Techno-Seligkeit der 90er-Jahre. Clubatmosphäre, Partypeople in Ekstase. Sie tanzen, trinken, rauchen, straucheln, rollen die geweiteten Pupillen nach oben und liegen sich erschöpft in den Armen. Zwischen ihnen wandelt Róisín Murphy mit Anglerhut umher wie eine Trösterin, die ihre Jünger*innen in die Arme nimmt.

Während die Sängerin im Video nur eine Nebenrolle übernimmt, hält sie als Regisseurin des Clips die künstlerischen Zügel fest in der Hand. Die irische Musikerin, die mit dem Dance-Duo Moloko berühmt geworden ist, hat über Social-Media-Kanäle ihre Fans zusammengetrommelt, um an zwei Tagen in der Londoner Lagerhalle und Künstlerspielwiese „The Store X“ eine Party zu feiern – und sie scheinen tatsächlich zu feiern und nicht nur Ausgelassenheit zu fingieren.

Mit Clubszenen aus der Konserve ist das so eine Sache. Wahrhaftig wirken nur wenige, wie zum Beispiel die eröffnende Sequenz von Sebastian Schippers Ein-Take-Film „Victoria“, in der Hauptdarstellerin Laia Costa enthemmt im Strobolicht tanzt. Dazu läuft „Burn With Me“ von DJ Koze, der für sein aktuelles Album auch einen Song mit Róisín Murphy aufgenommen hat.

Doch wo die übrigen Partygäst*innen in „Victoria“ nur Schemen im Nebel bleiben, zeigt Murphy ihre Protagonist*innen in „All My Dreams“ deutlicher als Individuen. Die Kamera geht ganz nah ran an die Dicken und Dünnen, Jungen und Älteren, Schwarzen, Weißen und Latinos, an Männer und Frauen gleichermaßen, ohne ihre Körper zu Lustobjekten zu degradieren.

Róisín Murphys singt von einer quälend langsamen sexuellen Anbahnung

Während die Bilder Erinnerungen an alte Raves wachrufen, klingt an der Musik vieles handgemacht. Ein geslapter Funkbass windet sich in dicken Schlaufen um den sturen Housebeat. Dazwischen zischt die Highhat, zwitschern die Synthies, bollern die Trommeln, bevor sich ein minimalistisches Gitarrenlick aus dem Rhythmusstrom aufbäumt.

In den Echoraum hinein hallt Róisín Murphys helle, etwas strenge Stimme und singt von einer quälend langsamen sexuellen Anbahnung: „This wait is driving me crazy, it’s just ridiculous . Oh, but it’s ridiculously sexy.“ Erst als der Bass nach drei Minuten einmal innehält und die Trommeln gewaltsam die Führung übernehmen, findet sie Erlösung: „All my dreams come true.“

Wie so oft bei Róisín Murphy fügen sich elektronische und analoge Sounds zu einem stimmigen Ganzen – diesmal abgemischt vom House-Produzenten Maurice Fulton. Doch Murphy beweist mit dem dazugehörigen Video, dass sie nicht nur als Musikerin ernstgenommen werden muss. Der Clip funktioniert als eigenständiges Kunstwerk, das dem Song weitere Sinnebenen hinzufügt. Ein verrauschter Rausch der Technojünger*innen, nostalgisch und doch nicht von gestern.

„All My Dreams“ ist als erste von vier 12inch-Singles erschienen, die Róisín Murphy gemeinsam mit Maurice Fulton aufgenommen hat. Inzwischen ist auch Teil zwei der Kollaboration herausgekommen: “Plaything”.

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Kategorie: Musik

Simon Rayß

In Simons Leben gibt es gleich drei große Lieben: das gedruckte Wort, handgemachte Musik und langsam erzählte Filme, deren Poesie er am liebsten in schummrigen Independent-Kinos genießt. Simon Rayß hat sein ganzes Leben, abgesehen von einem 14-monatigen Ausflug nach Finnland, im Osten Berlins verbracht. Daher kommt wohl auch seine entspannte Art, die ihn gelassen durch den Großstadtdschungel navigiert. Schreiben, gutes Essen, liebe Freunde, Kerzenschein und die Berlinale: Fertig ist das kleine, große Glück!

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