Musik

Gewohnt ungewöhnlich

Das britische Pop-Duo Erasure gastierte in der Zitadelle Spandau – und brachte die 80er Jahre zurück.

Alles kommt wieder in Mode, so auch die 80er Jahre mitsamt Schulterpolstern, Oberlippenschnauzer, Neonfarben. Und die Musik? Schwulstige Synthie-Pop-Klänge geistern zwar nicht mehr durch die Charts, dafür sind Bands aus dieser Zeit wie A-HA und Depeche Mode noch immer präsent auf den Bühnen. So auch Erasure.

Das Duo aus England hat auf seiner „Total Pop!“ Tour Station in der Berliner Zitadelle gemacht. Unter wolkenlosem Himmel und mit nah vorbei fliegenden Flugzeugen im Hintergrund spielten Erasure in einem gut gefüllten Hof der Zitadelle in Spandau. Erwartungsvolle Fans tummelten sich untereinander, viele Pärchen gedachten wohl der guten, alten Zeiten, die Männer meist noch begeisterter als die Frauen. Die Atmosphäre glich eher der eines Biergartens als eines Konzerts, standen doch überall Bänke und Tische und roch es nach Gegrilltem und frischem Knoblauch.

Die Farbe des Abends: Rot

Um 20.15 Uhr, pünktlich zur besten Sendezeit, kamen Vince Clarke und Andy Bell auf die Bühne. Sänger und Frontmann Bell, gewohnt extravagant, zeigte sich in einem roten Pailliettenjacket. Passend dazu trug Gitarrist und Synthie-Spieler in Personalunion Clark einen roten Zweiteiler, der trotz seiner schreienden Farbe im Hintergrund blieb. Der 51-jährige Gründer von Bands wie Depeche Mode, Yazoo und eben Erasure gesellte sich auf seine Lieblingsposition: versteckt hinter dem extrovertierten Clarke und seinen Instrumenten. Dabei ist der Klavier-große Synthesizer von damals längst einem kleinen handlichen Exemplar gewichen samt Apple-Laptop. Zwei Backgroundsängerinnen in schwarzen Abendkleidern vervollständigten das Bühnenbild, das ansonsten durch die Outfits der Männer bestach. Über der Szenerie hing ein großes Banner mit dem Bandnamen Erasure in weißen, runden Buchstaben auf pinkem Untergrund und umgeben von bunten Scheinwerfern.

“Always”, kreisende Hüften und ein bisschen Deutsch

Alles war wie gewohnt ungewöhnlich bei Erasure. Das Publikum zollte es ihnen mit Dank und erhob sich endlich von seinen Bierbankplätzen. Sogar die Klofrau hörte kurz auf, ihre Chinanudeln aus der Box zu löffeln und bewegte sich zum Rhythmus. Für eine kurze Zeit lebten die 80er Jahre wieder. Eine von Künstlichkeit durchsetzte Pop-Musik erzählte von allen Facetten der Liebe – des Bauchkribbelns, den Kämpfen, dem Kummer und Schmerz – und ließ so immer wieder Verliebten sich zu innig umarmen. An einem Montagabend spielten Erasure ihre größten Hits „Always“, „Sometimes“ und „Little respect“, die eingebettet zwischen weniger bekannten Liedern lagen.

Trotz seiner 50 Jahre und der ein oder zwei Kilo mehr auf den Hüften legte Andy Bell eine noch immer amüsante Bühnenshow ab. Mit kreisenden Armbewegungen, einer lockeren Hüfte und flinken Füßen sprang und rannte er über die Bühne, immer in Interaktion mit seinem Mikro und dem Publikum. Die versammelte Mannschaft überraschte er mit seinem guten Deutsch, in dem er die ganze Zeit des Konzerts über plapperte. Bell spricht seit seiner Schulzeit Deutsch und lebte auch einige Jahre in Deutschland. Heute wohnt der 47-Jährige mit seinem Lebensgefährten in Spanien.

In Berlin ist aber nach nur anderthalb Stunden Schluss mit Erasure. Nur eine Zugabe gewährte das Duo, dann waren die 80er so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Es war ein kurzweiliges Erlebnis vergangener Zeiten, in denen homosexuelle Frontsänger noch ein Skandal waren, als Andy Bells freizügige Outfits und latent obszönen Bewegungen auf der Bühne noch für Aufschreie sorgten. Heute erregen wohl nur noch die antiquierten Synthie-Klänge so manche Fan-Herzen.

FacebooktwitterFacebooktwitter
Kategorie: Musik

Julia Wießner wurde am 22.09.1986 in Cottbus geboren. An den Mauerfall kann sie sich nicht erinnern. Trotzdem war sie gleich vor Ort und befragte die Menschen in der Schlange fürs Begrüßungsgeld. Da war klar: Sie wird Journalistin. Nach Abitur und neun Monaten Australien entschied sie sich, gen Westen zu ziehen. Sie studierte drei Jahre für einen B.A. an der Universität Siegen „Literary, Cultural and Media Studies“ mit den Schwerpunkten Deutsch und Englisch. Nebenbei arbeitete sie bei einem Uni-Magazin und drei Monate in Potugal. Sie machte Praktika bei Radio Cottbus, dem RBB, der Medienagentur Fulmidas, der Berliner Zeitung und dem TV-Kulturmagazin Aspekte. Neben dem Studium arbeitet sie in der Online-Redaktion der Berliner Morgenpost. Außerdem unterstützt sie das Produktmanagement von Berlin1.de. Sie merkte, dass sie gut unter Zeitdruck arbeiten kann und es freute sie, am Ende des Tages ein fertiges Produkt zu sehen oder zu hören. Ihre Spezialitäten sind die Medien selbst, Kulturpolitik, Filme jeglichen Genres, klassische und zeitgenössische Literatur. Kultur ist für sie ein offener Begriff, der alles vereint, was nicht Natur ist. Und so interessiert sie sich vor allem für gesellschaftliche Phänomene. Sie würde gern das ZDF „Morgenmagazin“ moderieren oder als Redakteurin bei einer Berliner Tageszeitung arbeiten.