Kunst
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Die Ehre des Truthahns

Jedes Jahr begnadigt der amerikanische Präsident einen von 46 Millionen Truthähnen, die jährlich in den USA zu Thanksgiving verspeist werden. Der Künstlerin Cheryl Miller war das nicht genug.

Diesmal war es ein weißer Truthahn namens Popcorn, dem Obama die Freiheit zusicherte. Popcorn muss nun nicht auf dem Teller landen, und großzügigerweise begnadete Obama auch gleich Popcorns härtesten Konkurrenten im Wettbewerb um diese Ehre mit. Ironischerweise werden aber die Truthähne, die jedes Jahr im Wettbewerb um die „Begnadigung“ antreten, von der National Turkey Federation gestellt – einem Interessenverband der Truthahnzüchter, deren Hauptziel es logischerweise ist, das Verspeisen von Truthahnfleisch in der Öffentlichkeit als gesund und traditionsreich etabliert zu halten. Obwohl der Truthahn also für die Amerikaner etwas positives symbolisiert – ein großes alljährliches Familienfest, das beinah den gleichen Stellenwert hat wie Weihnachten – kennen die allermeisten Amerikaner Truthähne nur als Symbol stilisiert oder gebraten und ausgestopft auf dem Festtagstisch. Und dieses Schicksal ereilt alljährlich 46 Millionen der Vögel.

Truthahn-Portraits als politischer Akt

Cheryl Miller, eine Künstlerin aus Augusta, Maine, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den übrigen Millionen von Truthähnen, die weniger Glück haben als Popcorn und im Ofen enden, ein Gesicht zu geben. Seit 1998 malt Miller Portraits von den Vögeln als eine Art „persönliche Tradition“. „Meine jährlichen Truthahn-Portraits sollen diese Tiere als Individuen zeigen und den Betrachter dazu anregen, Truthähne als fühlende Wesen zu begreifen.“ Nach 15 Jahren Truthahn-Portraits beschloss Miller, einen Schritt weiter zu gehen und zu versuchen, die unfassbar große Nummer an Truthähnen, die jedes Jahr zu Thanksgiving verspeist werden, greifbar zu machen – in Form von 46 Millionen unterschiedlichen Truthahn-Portraits: „Der Versuch, 46 Millionen Bilder von Truthähnen zu kreieren, ist ein effizienterer Weg, diese große Zahl zu vermitteln, als ihre bloße Nennung.“ Dieses Ziel vor Augen, bemerkte Miller schnell, dass die Masse an künstlerischer Arbeit alleine kaum zu schaffen war. Deswegen beschloss sie, das Projekt für alle Interessierten zu öffnen und Menschen zu animieren, selber Portraits einzureichen. „Durch die Teilnahme der Bevölkerung an dem Projekt ergibt sich auch eine große Chance der Aufklärung.“

Cheryl Miller: "Happy Thanksgiving 2012". Aquarell auf Reispapier

Cheryl Miller: “Happy Thanksgiving 2012”. Aquarell auf Reispapier

Teilweise über Tierschutzorganisationen wie Our Hen House, Farm Sanctuary oder Peace Ridge Sanctuary, vor allem aber auch über social media und die Website 46millionturkeys.com, wurde der Aufruf zur Teilnahme an diesem Projekt verbreitet. Ob Zeichnung, Siebdruck, Knetskulptur oder Stickerei, den Beiträgen zum 46MILLIONTURKEYS Projekt waren keine Grenzen gesetzt, was das Material anging. Um allerdings möglichst viele Truthahnportraits in die kleine Galerie in Hallowell, Maine, die in diesem Jahr Cheryl Millers Ausstellungsraum stellte, zu bekommen, durfte jeder Truthahn nur einen Raum von ungefähr 5 x 5 cm einnehmen. Dies schränkte die Kreativität der Teilnehmer aber keinesfalls ein: Eine Teilnehmerin zeichnete beispielsweise ganze 22.000 Truthähne per Hand.

Insgesamt wurden 1.480.513 Truthahnportraits eingereicht, mit Teilnehmern aus den ganzen USA, England, Irland und Deutschland. „Da die Website auch viele Besucher aus dem weiteren Ausland verzeichnet hat, bin ich mir sicher, dass im nächsten Jahre noch mehr Teilnehmer aus aller Welt Zeichnungen einschicken werden“, resümiert Miller. „Realistisch gesehen war es natürlich unwahrscheinlich, in diesem Jahr schon 46 Millionen Beiträge zusammenzubekommen. Ich denke aber, in den folgenden Jahren könnten wir diese Zahl erreichen.“

„Die häufigste Reaktion zu dem Projekt, die ich bekomme, ist: ‘Warum in aller Welt sollte man 46 Millionen Truthähne malen wollen?’ Und genau diese Frage ist der beste Ausgangspunkt für eine Diskussion darüber, dass jedes Jahr 46 Millionen Vögel für einen einzigen Festtag aufgezogen, geschlachtet und gegessen werden.“

 

Die Beiträge sind weiterhin auf 46millionturkeys.com und der dort verlinkten flickr-Galerie zu sehen.

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Kategorie: Kunst

Aufgewachsen in der Nähe von Hamburg, Studium der Nordamerikastudien am John F.Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin mit Auslandssemestern an der University of Nottingham und University of California, Santa Barbara. Besondere Begeisterung für den Film und das Filmen und die amerikanische Kultur(-geschichte).

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