Gesellschaft
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Was passiert, wenn man eine Reise tut – ein Selbstversuch

Viel zu lange habe ich die Aussage „Der Weg ist das Ziel“ nicht verstanden. Doch vor einigen Monaten wurde mir die tiefergehende Bedeutung klar. Immer wenn ich verreise, bin ich besonders kreativ. Im Bus, in der Bahn, im Flugzeug geht mir das Schreiben ganz ohne Anstrengung von der Hand – während ich am Schreibtisch oft nicht vom Fleck komme. Habe ich am Ende einer Reise einen guten Text zu Blatt gebracht, habe ich mein Ziel erreicht – im doppelten Sinne. Doch warum schreibe ich gerade beim Reisen so gern? In den folgenden Absätzen möchte ich meine Wahrnehmungen im Selbstversuch dokumentieren und hinterfragen.

Es ist elf Uhr morgens, ich steige in den Bus nach Kopenhagen. Um kreativ zu sein, habe ich spontan eine Reise gebucht. Aufgeregt frage ich mich, ob alles klappen wird. Meist bin ich dann kreativ, wenn ich ungezwungen entspannen möchte. Dieses Mal lastet ein regelrechter Kreativitäts-Druck auf der Reise – auf mir. Und dann geht es los. Den Zustand, auf Reisen besonders kreativ zu sein, kenne ich schon lange, konnte ihn jedoch nie benennen – in Mihaly Csikszentmihalyis Buch „Flow – Das Geheimnis des Glücks“ wird er Flow genannt. Dieser glückliche  Moment, in dem man so vertieft ist, dass man alles andere ausblendet und jede Menge positive Gefühle ausschüttet – vollkommen unbewusst, mühelos und unkontrolliert. Doch gerade als ich meine ersten Gedanken zu Papier bringen möchte, werde ich von einem schrillen Warnsignal unterbrochen. Anscheinend gibt es eine Motorstörung, der gesamte Bus ist von Rauch umgeben. Es wirkt wie ein Zeichen. Wohlmöglich darf ich mich nicht zum kreativen Glück zwingen.

Was versetzt mich beim Reisen in diesen Zustand? Nutzen wir die Warte-Zeit für die Frage, was hinter dem Flow steckt. Wenn ich reise, bin ich mit mir und meinen Gedanken allein. Dann gibt es nichts anderes, und alles scheint in Bewegung zu sein. Reisen bedeutet zweierlei – Bewegung, und eben auch die Zeitspanne, in der ich zum Ziel unterwegs bin. Dann bin ich im Flow. Plötzlich werden die Worte in meinen Gedanken mehr, es kribbelt in meinen Fingern. Ganz ungezwungen beginne ich zu schreiben, erfreue mich an schönen Sätzen, bin in meinem Element angekommen. Im Flow. Selten nehme ich diesen Zustand bewusst wahr, denn nichts um mich herum und alles in meinem Kopf spielt in diesem Moment eine Rolle.

“Keine Ablenkung, keine Deadlines. Nur ich und das Schreiben im Rahmen der Reise.”

 

Woher kommt diese Euphorie? Und woher kommt Euphorie überhaupt? Als ich nachschlage, woher der Begriff Euphorie stammt, erfahre ich: Er stammt aus dem Griechischen und bedeutet unter anderem Produktivität. Glück und Arbeit liegen also näher zusammen, als mir bewusst war. Durch die extrem positive Emotion wird der innere Antrieb gesteigert, dabei werden zahlreiche Glücksgefühle ausgeschüttet. Die meisten Menschen können durch etwas Bestimmtes euphorisch gestimmt werden, den Flow-Zustand erreichen. Was für mich die Verbindung von Reisen und Schreiben ist, mag für andere Tanzen, Essen oder Sport sein. In jedem Fall wird die Konzentration so stark auf etwas gelenkt, so dass auch die Emotionen zentralisiert werden. Die Entropie weicht einem Gefühl der Harmonie.

Heute scheint dies allerdings nicht einzutreten. Der Bus steht an einer Raststätte und wir müssen knapp zwei Stunden auf den Ersatzbus warten. Stillstand – auch in meinem Kopf. Langsam ebbt meine Euphorie ab, Erschöpfung holt mich ein. Immer wieder denke ich daran, dass am Ende der Fahrt die Grundlage für den Text fertig sein muss. Zu viel Druck, um kreativ zu sein? Auch die Fähre, die wir bei Dunkelheit erreichen, hat Verspätung. Eine stundenlange Reise für Euphorie, die nicht zustande kommen mag. Zu allem Übel ist der Seegang besonders stark und die Fähre schwankt. Ich bin seekrank.

Doch was tut man nicht alles für das Glück des richtigen Worts? Vor allem den Schreibtisch verlassen. Denn das ist wohl der Schlüssel zum Erfolg. Die Psychologin Bridget Grenville-Cleave erklärt in ihrem Buch „Introducing Positive Psychology. A Practical Guide.“, dass Euphorie unter anderem dadurch ausgelöst werden kann, dass gewohnte Muster durchbrochen werden. Dadurch wird die Aktivität herausfordernder, oder in meinem Fall ertragreicher. Es gibt in diesem Moment nichts Anderes, das eine Rolle spielt oder mich in meiner Kreativität stören kann. Keine Ablenkung, keine Deadlines. Nur ich und das Schreiben im Rahmen der Reise.

Als ich in Kopenhagen ankomme, blicke ich in mein Notizbuch und sehe die vollen Seiten. Und während ich diese Zeilen final tippe, habe ich mein Ziel erreicht und bin schon jetzt euphorisch, wenn ich an die nächste Reise denke.

© Titelfoto: Elena Berchermeier/Ricarda Schüller

 

Illustration: Heike Fischer

Illustration: Heike Fischer

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