In meiner Kindheit erfand ich ein Ritual, was mir ermöglichen sollte, kulinarische Genüsse perfekt zu memorieren: Wenn mir etwas besonders gut schmeckte, wurde feierlich ein kleines Stück des Besten zur Seite, an den Tellerrand geschafft. Nun wurde die Familie mit aller kindlichen Ernsthaftigkeit um Ruhe gebeten. Ich schob mir den auserwählten Happen in den Mund und drückte fest meine Hände auf die Ohren, damit mich nichts ablenken konnte. Ich nahm eine konzentrierte Genießer-Haltung ein und machte die Augen zu.
Alle Reize sollten sich bündeln, um wahren Genuss zu entdecken. Nun, mussten alle Eigenschaften aufgezählt und dabei dem Geschmack bis in die letzte Faser gefolgt werden. Nachdem alle Ingredienzien ausreichend analysiert waren, mussten noch die Kombinationen der einzelnen Bestandteile erforscht werden. Schlussendlich wurde nochmal alles genüsslich aufgezählt, damit sich dieser Moment alltäglichen Glücks auch sicher konservieren ließ.
Gedanklich wurde das Untersuchungsergebnis in ein Marmeladenglas gepackt, beschriftet und an den rechten Platz im Gedächtnis gestellt. In den Tiefen meiner Gedankenwelt gab es nämlich ein Regal mit den gesammelten Genüssen vergangener Tage. Hier wartete mein neues Glas nun auf graue, phantasielose Tage, damit es hervorgekramt werden und seine Erinnerungen die langweiligen Nudeln mit Tomatensoße oder das fade Pausenbrot würzen konnten.
Manchmal erwische ich mich noch heute dabei, wie ich mein Ritual als Genuss-Detektivin wiederhole. Die Marmeladengläser aus meiner Kindheit existieren übrigens noch immer.