Gesellschaft, Ost*Berlin
Schreibe einen Kommentar

El Dorado Ostberlin

Sein Durchbruch: Matthias Freihof als Lehrer Philipp im Film "Coming Out", Foto: DEFA-Stiftung/Wolfgang Fritsche)

Mit „Coming Out“ drehte Heiner Carow 1989 die erste schwule Filmgeschichte der DDR. Fast 30 Jahre später spricht Hauptdarsteller Matthias Freihof über seine Rolle, über Homosexualität in der DDR und darüber, wie die Filmpremiere doppelt historisch wurde.

Sie spielen in „Coming Out“ den schwulen Lehrer Philipp, der trotz seiner Beziehung zur Arbeitskollegin Tanja (Dagmar Manzel) ein Verhältnis mit Matthias (Dirk Kummer) eingeht. Wie reagierte Ihr Umfeld darauf, dass Sie einen Homosexuellen verkörpern?

Privat hatte ich mich schon mit 14 oder 15 Jahren geoutet. In meiner Familie war das kein Problem und im Freundeskreis auch nicht. Aber mir war bewusst, wenn ich diesen Film mache, der „Coming Out“ heißt, dann kann ich nicht selber hinterm Ofen sitzen bleiben. So einen Film zu drehen ist ein Statement. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich mich danach nicht auch öffentlich geoutet hätte.

Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet? Konnten Sie Ihre eigenen Erfahrungen bei den Dreharbeiten einbringen?

Ich habe damals viel mit dem Autor und dem Regisseur diskutiert über diverse Situationen im Drehbuch, die ich aus eigenem Erleben anders kannte. Natürlich wurden in unserer Geschichte Dinge filmisch überhöht. Das ist normal bei einer fiktiven Geschichte. Wir haben ja keinen Dokumentarfilm gedreht. Unser Film wurde aber an Originalschauplätzen gedreht. Die Komparsen kamen alle aus der Szene. Vor Beginn der Dreharbeiten wurden in einigen Szene-Bars Zettel ausgehängt. Wer Lust hatte, als Kleindarsteller mitzumachen, war willkommen. Daraufhin haben sich sehr viele Leute gemeldet. Die Solidarität der Ostberliner Community war enorm. Der Film war längst fällig und deswegen war auch die Bereitschaft sich einzubringen sehr groß.

Im Gespräch mit Ringo Rösener, dem Regisseur von „Schwul in der DDR – Männer unter sich“, hörte ich zum ersten Mal die Begriffe „Cruising“ und „Klappen“. Ich dachte, das seien Orte der Prostitution  – waren das wirklich Schwulentreffpunkte, so wie sie im Film dargestellt wurden?

Das waren Orte, von denen man wusste, dass Schwule da nachts anzutreffen waren. Dort hat man rumgestanden, geschaut, „abgecheckt“ und dann ging es auf den Toiletten, „Klappen“, weiter. Man hat gewartet, bis sich einer daneben stellt, der den Erwartungen entsprach, und den hat man dann entweder mit nach Hause genommen oder sich gemeinsam in eine Kabine zurückgezogen. Es gibt den wunderbaren Film von Frank Ripploh, „Taxi zum Klo“, da ist all das zu sehen. Aber natürlich gab es auch jüngere Schwule oder ne Reihe eigentlich heterosexueller Jungs, die damit Geld verdienen wollten. Gegenüber von der „Schoppenstube“, einer Kneipe, in der wir ebenfalls gedreht haben, war ein großer Parkplatz, der nachts nicht beleuchtet war. Da gab es auch Jungs, die sich für Geld angeboten haben.

Im Film wird ein Angriff auf einen Homosexuellen in einer U-Bahn gezeigt. Wie real war Gewalt gegen Schwule in Ostberlin?

Ende der 1980er gab es mit dem Anwachsen der Neonazi-Szene in der DDR vermehrt Übergriffe auf schwule Cruising-Areas. So zum Beispiel im Ostberliner Friedrichshain, wo wir auch eine Nacht-Szene für „Coming Out“ gedreht haben. Es ist häufiger vorgekommen, dass eine Horde Neonazis nachts auf ihren Mopeds in den Park „eingeritten“ sind, um aus Langeweile Schwule zu „verkloppen“. Ab Mitte der 1980er gab es in den Kneipen und Parks auch öfter Razzien durch die Polizei. Als HIV und AIDS aufkamen, gab es Überlegungen der DDR-Administration, Schwule gezielt zu registrieren und später dann eventuell zu internieren, falls wirklich eine Seuche ausbrechen sollte.

Aids war in der DDR nicht sehr verbreitet. Hatten Sie persönlich Erfahrungen mit Erkrankten?

Der Bruder meiner Mutter war schwul und hatte sich Anfang der 1980er in Amerika infiziert. Er hatte eine fürchterliche Leidenszeit und ist im Frühjahr 1989, während unserer Dreharbeiten zu „Coming out“, gestorben. Dieses Thema spielte natürlich in meiner Familie eine besondere Rolle.

„Coming Out“ setzt sich allerdings nicht mit Aids auseinander, was mich angesichts der Präsenz des Themas verwundert. Warum?

Wir haben das immer wieder diskutiert, uns dann aber bewusst dagegen entschieden. Zum einen, weil es der erste Film zum Thema Homosexualität im Osten war und zum anderen, weil wir auch den Anspruch eines Aufklärungsfilmes erfüllen mussten. Der Film ist ja nicht „aus dem Ghetto fürs Ghetto gemacht“, wie viele Schwulenfilme davor und danach. Wir wollten bewusst eine Liebesgeschichte erzählen, die jedem die Möglichkeit gibt, sich mit der Geschichte und den Filmfiguren zu identifizieren. Wir waren der Überzeugung, dass wir nicht einerseits die Zuschauer auffordern können, sich mit dem Thema Homosexualität auseinanderzusetzen, um sie im nächsten Moment mit der AIDS-Keule zu verschrecken. Deswegen haben wir das Thema ausgeklammert.

Hatten Sie damals schwule Freunde in Ostberlin? Wie offen haben Sie gelebt?

Es gab schwule Studenten und auch Dozenten an unserer Schauspielschule, mit denen ich befreundet war. Dort haben sich fast alle zu ihrer Sexualität bekannt und sie offen gelebt. Auch der private Freundeskreis war sehr groß. Wir haben uns nicht versteckt.

Ich als Westkind dachte, dass es schwer gewesen sein muss, unter Stasi-Beobachtung seine Sexualität frei auszuleben. Bei den Recherchen ist mir aufgefallen, dass die Lebensweise doch relativ frei war.

Ostberlin war für Schwule und Lesben natürlich das El-Dorado im Osten, da wollten alle hin. Es war DIE große Stadt. Ein ähnlicher Magnet wie Westberlin. Da war die Anonymität der Großstadt gegeben, und auch die Chance, einen Freundeskreis zu finden. Ressentiments gab und gibt es eher in ländlichen Regionen, im Osten wie im Westen. Obwohl man das gar nicht so pauschal sagen kann. Es gibt einen wunderbaren Dokumentarfilm, „Ich kenn hier keinen“, von meinem Freund Jochen Hick, in dem er seinen offen schwulen Protagonisten in der schwäbischen Provinz begleitet und zahlreiche Interviews mit Nachbarn und Kollegen führt, die sehr vom gesellschaftlichen Klischee abweichen.

In Berichten erzählen schwule Männer allerdings auch über das „unsichtbare Leben“ in Ostberlin – ein Thema, das uns heute immer noch beschäftigt. Was verstehen Sie darunter?

Ob ein Mensch seine Homosexualität offen lebt, hängt von vielen Faktoren ab und ist natürlich eine sehr private Entscheidung. Natürlich gab oder gibt es damals wie heute Männer, die verheiratet und erpressbar waren. So wurden und werden ungeliebte Konkurrenten ausgeschaltet und Karrieren beendet. Natürlich stand das Thema Homosexualität auch auf der perfiden Instrumentenliste der Stasi. Im Westen war die Repression gegenüber Homosexuellen aber auch staatlich gesteuert. Wie viele Leute sind in Westdeutschland wegen des diskriminierenden Paragraphen 175 denunziert worden und hinter Gitter gekommen.

Haben Sie darüber mit West-Kollegen diskutiert?

Auf der Pressekonferenz zu unserem Film während der Berlinale 1990 haben offensichtlich schwule Filmjournalisten gesagt: „Der Film ist ja ganz schön, aber sehr altbacken. Wir sind hier im Westen viel weiter.“ Ich hatte das große Glück, schon Mitte der 1980er mit Studentenaufführungen nach Westberlin und Westdeutschland reisen zu dürfen und hatte Gelegenheit, mir selbst ein Bild von Szene-Kneipen im Westen zu machen. So fragte ich auf besagter Pressekonferenz zurück: „Womit bitte seid Ihr im Westen weiter? Du stehst in Schöneberg in einer Kneipe, hältst dich an deinem Becks-Bier fest und wartest darauf, dass Prince Charming vorbeikommt. In der BRD gibt es den Paragraphen 175 immer noch. Was heißt da „weiter?“ Da war erstmal Ruhe im Karton.

Die Premiere fand am 9. November 1989 im Kino International statt – was für ein Tag.

Es gibt viele Legenden, der Film sei untergegangen in den Wendewirren, aber das war nicht so. Am Abend des 9. November 1989 gab es im Kino International zwei Premieren des Films hintereinander, weil die Nachfrage so groß war. Ich kam rechtzeitig zum Applaus nach der ersten Vorführung, weil ich noch Vorstellung im Palast der Republik hatte. Zeitgleich kam auch Dagmar Manzel von einer Vorstellung am Deutschen Theater. Sie hatte irgendwie beim Verlassen des Theaters gehört, die Mauer sei offen. Darauf meinte ich: „Jaja und ich bin der Kaiser von China!“ Es wollte von uns keiner richtig wahrhaben. Dann lief der Film das zweite Mal und wir saßen im Foyer mit Zuschauern und Journalisten beim Filmgespräch. Im Kino International gibt es diese riesigen Fenster, wir schauten runter auf die Karl-Marx-Allee und sahen da eine wahre Völkerwanderung Richtung Westen. Ganze Trabi-, Skoda- und Wartburg-Lawinen!

Wann haben Sie denn dann wirklich begriffen, dass die Mauer offen war?

Als wir dann nachts um halb eins endlich auf unserer Premierenfeier in der Szene-Kneipe „Zum Burgfrieden“ im Prenzlauer Berg ankamen, realisierten wir allmählich, was passiert war. Ein Freund von mir, den wir drei bis vier Wochen vorher tränenreich in den Westen verabschiedet hatten, weil sein Ausreiseantrag endlich genehmigt worden war, stand da plötzlich freudestrahlend vor uns. Ich selber bin erst so um halb vier mit ein paar Leuten zur Bornholmer Brücke gelaufen, um mich selbst davon zu überzeugen, dass die Grenze offen war. Einige sind dann auf der Weddinger Seite der Brücke in den Bus gestiegen und zum Ku’damm gefahren. Ich hatte am nächsten Tag um 10 Uhr Probe, bin nur bis zu dieser weißen Linie mitten auf der Brücke gelaufen und dann nach Hause. So viele starke Emotionen an einem einzigen Abend haben mich einfach überfordert.

Hat die Maueröffnung dem Film geschadet?

Dass die Mauer offen war und wir im Februar 1990 bei der Berlinale einen  Silbernen Bären gewonnen hatten, hat unserem Film im Gegenteil sehr geholfen! Schon direkt nach Maueröffnung waren viele Westberliner ins International gekommen, um sich den Film anzuschauen. Es gibt einen wunderbaren Bericht des ZDF-Aspekte-Magazins vom Premierenabend. Die Leute, die aus dem Kino kamen, wurden nach ihrer Meinung zum Film befragt. Ein junger Mann schrie in die Kamera: „Diese ganze DDR braucht ein Coming Out.“ Tja und so kam es ja dann auch!

Sie touren bis heute mit dem Film durch verschiedene Länder. Wird das nicht irgendwann langweilig?

Ich hab die Geschichten tatsächlich schon oft erzählt. Letztes Jahr habe ich den Film in St. Petersburg auf dem dortigen schwul-lesbischen Filmfestival präsentiert. Das war auf Grund der „Schwulen-Propaganda-Gesetze“ Putins mehr oder weniger illegal und ich hatte Personenschutz. Vergangenen Dezember war ich in Georgien. Im Osten gibt es noch eine Menge zu tun! Die relative Freiheit, die ich in der DDR erlebt habe, war und ist im ehemaligen Ostblock leider eher die Ausnahme. Es gibt dort sehr viel Nachholbedarf! Auf Festivals im Osten wird mir jedes Mal bewusst, wie wichtig es für die dortige LGBTQ-Community ist, dass ich mich da als Künstler und selbstbewusster schwuler Mann zeige, der über den Film und über sich erzählt, um den Leuten Mut zu machen.

Danny Mahlig ist in Gelsenkirchen geboren und lebt seit Oktober 2017 in Berlin. Seitdem hat er auch Ostberlin für sich entdeckt und ist dort auf die Suche nach homosexuellen Filmen und Schauspielern gegangen.

Matthias Freihof, Foto: Ingo Woesner

Bio 


Matthias Freihof, geb. 1961 in Plauen, ist ein deutscher Theater- und Filmschauspieler, Regisseur, Synchronsprecher, Sänger und Entertainer. Nach dem Studium an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin trat er an verschiedenen Berliner Bühnen auf (Maxim-Gorki-Theater, Berliner Ensemble, Volksbühne, Renaissance Theater, Schlosspark-Theater) und bewies seine Entertainer-Qualitäten in diversen Shows im Palast der Republik und im Friedrichstadtpalast. Konzerttourneen führten ihn durch Europa, nach Asien, Südamerika und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Er war Meisterschüler der Brecht-Interpretin Gisela May und hat mehrere Musikproduktionen veröffentlicht. Seinen Durchbruch erreichte er mit der Hauptrolle in Heiner Carows DEFA –FILM „Coming Out“. Seitdem hat er in Fernsehproduktionen („Die Autobahnpolizei“, „Siska“, „Der Alte“, „SOKO Leipzig, -Wismar, -München, -Stuttgart“, „Todesspiel“, „Vera Brühne“, „Weissensee“ u.v.a.) sowie in Kinoproduktionen gespielt, u.a. in „Im Zeichen der Liebe“, „ Not a love song“, „Zurück auf Los“, „Kirschblüten“, „Die Friseuse“, „Operation Walküre“ und zuletzt „Weiber! Schwestern teilen alles“. Außerdem arbeitet Matthias Freihof als Schauspieldozent und Coach.

FacebooktwitterFacebooktwitter

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert