Bertolt Brecht hat gesagt: „Der große Sport fängt da an, wo er längst aufgehört hat, gesund zu sein“. Doch was treibt den Menschen über diese Grenze des Vernünftigen? Vier Extremsportler*innen schildern, was ihnen im Rausch der körperlichen Maximalbelastung durch den Kopf schießt. Die Berichte der Sportler*innen hat Prof. Henning Boecker, Leiter für Forschung und Entwicklung der Experimentellen Radiologie am Universitätsklinikum Bonn, kommentiert.
Felix Wachholz studiert Sportwissenschaften in Innsbruck und verbringt einen Großteil seiner freien Zeit in den Bergen. Ob im Winter oder Sommer, das Klettern ist die Paradedisziplin des gebürtigen Kölners. Dabei ist er stets auf der Suche nach einer unberechenbaren Komponente, in etwas Unbekanntes möchte er sich werfen. Abhängig? Ja, das kann der 26-Jährige bestätigen. Angst empfindet er dabei jedoch nicht, zu vertraut sind ihm die steilen Berghänge und vereisten Gletscher.
Ulrike Glöckner führt die Deutsche Rangliste der CrossFit Athletinnen an. Die 27-jährige Wahl-Berlinerin bewältigt bis zu zwölf Disziplinen parallel, darunter olympisches Gewichtheben, Schwimmen und Laufen. Ihr Tag beginnt um 5:30 Uhr mit der ersten Trainingseinheit. Nebenbei arbeitet sie in Vollzeit und baut ihr eigenes Fitnessstudio auf. Überforderung? Keine Spur. Der strikte Trainingsplan verlangt Disziplin. So lässt sich auch über Schmerzen hinweg sehen.
Johannes Kehrer hatte vor zwei Jahren ein Nahtorderlebnis. Als er im freien Fall 150 Meter in die Tiefe stürzte, war er davon überzeugt, dass er jetzt sterben würde. Speed Flying nennt sich das waghalsige Unterfangen, das dem 29-Jährigen ein rauschähnliches High Gefühl beschert. Dabei kombiniert er Offroad-Skiing mit Paraglyding und segelt über die Berggipfel der Alpen. Obwohl sich der gebürtige Österreicher in seiner Masterarbeit intensiv mit Extremsportarten auseinandergesetzt hat, ist für ihn nicht an Aufhören zu denken.
Patrick Hallers
Element ist das Wasser. Ihn zieht es auf den Ozean, sobald der Wind richtig steht. Mit seinem Kite Board springt er bis zu zwanzig Meter in die Luft – er nennt es fliegen, auch wenn er beim Aufprall nach dem Flug ein Schleudertrauma riskiert. Die Nähe zur Natur ist essentiell für den 30-jährigen Kiter. Deswegen liebt er seinen Wohnort Dublin, wo er aus dem Büro ins Meer stolpert.
Das Setting
„Man ist gezwungen im Moment zu leben. Man denkt nicht an Vergangenes oder Zukünftiges, man spürt sich einfach selber. Das ist die größte Befriedigung für mich beim Sport. Ich habe das Gefühl dem Alltag zu entfliehen und frei zu sein.“ Felix Wachholz
„(…) Den Kick spüre ich, wenn ich in die Höhe gehe und das Gefühl habe zu fliegen. (…) Auf einen Sprung folgt der nächste, und noch einer, und noch einer … Das ist ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit, Macht und Kontrolle. Ich kann tun und machen was ich will und keiner schränkt mich dabei ein.“ Patrick Haller
Prof. Henning Boecker

Kennt keine Angst: Felix Wachholz auf Kletterexpedition. Foto: Stefanie Knoll
Die Performance
„Es gibt Situationen, in denen mir sehr wohl bewusst ist, dass ein Fehler in diesem Moment fatale Konsequenzen haben könnte. Das geht aber mit der Leistungssteigerung einher, man will ja schließlich ein höheres Risiko.“ Johannes Kehrer
„Du hast permanent das Gefühl, dass du noch mehr schaffen kannst, indem du immer mehr Trainingseinheiten in deinen Tag oder deine Woche einbaust. Du willst ein immer höheres Ziel erreichen. Dadurch vergisst du ganz oft was du schon alles erreicht hast, man schaut immer nur nach vorne.“ Uli Glöckner
„Man versucht stetig das eigene Niveau zu verbessern. Beim Klettern muss das nicht zwangsläufig ein höherer Berg sein, sondern einfach eine schwierigere Route, dadurch muss man automatisch mehr leisten.“ Felix Wachholz
„Mein höchster Sprung war 17.5 Meter, das fühlt sich an wie fliegen (…) Man spürt permanent den Drang, die eigene Leistung zu steigern“ Patrick Haller
Prof. Henning Boecker

Springt bis zu 20 Meter in die Höhe. Patrick Haller auf seinem Kiteboard. Foto: Pieter Theron
Das Angstverhalten
„(…) Ich habe keine Angst und mache mir keine Sorgen, sondern habe einfach pures Vertrauen auf mich selber und meine Fähigkeiten.“ Felix Wachholz
„Mit extremer Routine verändert sich die individuelle Angst- und Risikowahrnehmung, das ist das Gefährliche an dem Sport. Ich werde nicht mehr nervös und verspüre die Situation nicht als unmittelbare Bedrohung, weil ich mir sicher bin, der Situation gewachsen zu sein.“
Johannes Kehrer
„Für mich sind es nicht unbedingt Ängste. Man muss vielmehr wissen, worauf man sich einlässt. Gerade nach einem Crash muss man direkt weitermachen. Man tastet sich wieder langsam vor und probiert es noch einmal, auch wenn man gerade Sterne gesehen hat.“ Patrick Haller
„Angst vor Wettkämpfen habe ich nicht. Druck kommt wenn immer von außen, deshalb ist der Fokus auf sich selber das Wichtigste.“ Uli Glöckner
Prof. Henning Boecker

In den Alpen heimisch. Johannes Kehrer mit seinem Gleitschirm. Foto: Martin Sieberer
Das Risiko
„Natürlich ist es das Risiko, das die Menschen reizt (…) Jede Leistungssteigerung ist mit einem noch höheren Risiko verbunden. Weil ich das Risiko persönlich nicht mehr wahrnehme, bin ich nicht abgeneigt, mich in noch größere Gefahr zu bringen.(…) Der Tod ist mittlerweile so präsent, dass er zur Gewohnheit wird. Ich hatte bereits selber eine Nahtoderfahrung. Mir war in diesem Moment klar, dass ich jetzt sterben würde (…) Die Ursachen für den Unfall können alle auf mich zurückgeführt werden: Überheblichkeit, Selbstüberschätzung, das Ausloten von Grenzen (…)“ Johannes Kehrer
„Ich habe seit meiner Kindheit einen kaputten Ellenbogen, der sich andauernd bemerkbar macht. Wenn du auf den Händen läufst oder an den Ringen hängst, ist das nicht förderlich. Der Schmerz schreckt dich aber nicht ab, ich mache einfach weiter.“
Uli Glöckner
„In Brasilien waren wir täglich sechs Stunden auf dem Wasser. Hüften und Schultern streiken (…), manchmal geht man sogar mit einem Schleudertrauma aus dem Wasser (…) Man lebt im Prinzip mit der Prämisse, dass immer etwas passieren kann.“ Patrick Haller
„Die Gefahr ist eher marginal. Du kannst schlecht vorausschauen, was passiert. Ansonsten dürftest du den Sport nicht mehr betreiben.“ Felix Wachholz
Prof. Henning Boecker

Der Kälte trotzen: Johannes Kehrer beim Eisklettern. Foto: Andreas Vigl
Die Abhängigkeit
„Der Sport ist so etabliert in meinem Leben und meinem Alltag, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen könnte, ohne Sport zu leben (…) Ich wurde in den letzten Jahren mehrere Male operiert. In der Zeit hast du große Angst, abzubauen und den Einstieg zurück nicht mehr zu schaffen.“ Uli Glöckner
„Ich bin definitiv sportsüchtig, das weiß ich auch. Wenn ich krankheitsbedingt längere Zeit keinen Sport mache, werde ich unausstehlich und bin extrem unausgeglichen. Es muss nicht zwangsläufig eine höhere Frequenz sein, ich brauche aber meine stetige Dosis.“ Felix Wachholz
„Ich verspüre sofort den Drang ins Wasser zu gehen, wenn das Wetter gut ist. Ich kann dann nicht rumhängen, oder Fernseher gucken. Wenn es windig ist, gibt es nur eine Präferenz und das ist Kiten.“ Patrick Haller
„Für mich ist der Sport eine Sucht nach Emotionen und Intensität, gepaart mit Herausforderungen und Zielen (…) Wenn ich den Sport aufgrund einer Verletzung pausieren muss, fühlt sich das Leben leer und bedeutungslos an, es nimmt zum Teil depressive Züge an“. Johannes Kehrer
Prof. Henning Boecker

Teil der CrossFit Disziplinen: Ulrike Glöckner beim olympischen Gewichtheben. Foto: Lars Jakobeit
Titelfoto: Felix Wachholz, fotografiert von Stefanie Knoll