Gesellschaft
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Die magische Stunde

Es ist vier Uhr morgens. Die Zeit vor Sonnenaufgang, zwischen Dunkelheit und Licht, wenn es entweder zu spät oder zu früh ist. Ein Niemandsland, weder hier noch dort, ohne Regeln und Vernunft. Die Stunde, in der sich seltsamste Dinge nicht davor scheuen, an die Oberfläche zu kommen. Dieser mysteriöse Moment der späten Nacht, die in den frühen Morgen hinein verblasst, scheint eine unheimliche Kraft in den Menschen freizusetzen. Unerklärliche Gefühle tauchen plötzlich auf, als würden sie exakt um 4 Uhr morgens ausgelöst werden. Es könnte etwas Weltbewegendes oder Lebensveränderndes sein; Dinge, die du nur unter dem Einfluss eines Zauberspruchs tun würdest. Der Hype der magischen Stunde ist echt, aber ihr Zauber hat nichts mit zwei Getränken zum Preis von einem zu tun.

“It’s four in the morning by the sound of the birds. I’m starin’ at your picture, I’m hearin’ your words”, schleuderte ein gequälter Bob Dylan seinem romantischen Interesse entgegen, in einem seiner Lieder. In einem ähnlichen Moment des Deliriums und der Verzweiflung schrieb Leonard Cohen um vier Uhr morgens Ende Dezember einen berühmten emotionsgeladenen Brief. Kein Gesetz der Physik erklärt das Energiefeld, das Genie und Wahnsinn, die unbändigen Begierden in diesem begrenzten Bruchteil der Zeit weckt. Aber zahllose Hinweise geben uns den Beweis, dass das Ereignis über den bloßen Zufall hinausgeht. Immer wieder verwendet, um einen explosiven Moment oder eine surreale Blase zu beschreiben, in der alles möglich ist, festigte der Zauber von 4 Uhr morgens seinen Ruf als wiederkehrender Topos in der Popkultur. Nicht nur Musiker und Film-Charaktere legen es darauf an, seltsame Dinge zu seltsamen Zeiten zu tun. Voltaire, John Milton und Haruki Murakami arrangierten ihre tägliche kreative Routine rund um die Kraft der vierten Morgenstunde. Toni Morrison steht gerne vor Morgengrauen auf, kocht Kaffee und schaut zu, “wie das Licht kommt”. Edna O’Brien tut es auch, “weil man dem Unbewussten und der Quelle der Inspiration näher ist”.

Es ist leicht, den Reiz der magischen Stunde durch das Auge eines Künstlers zu sehen. Jeden Tag überrascht die Sonne mit einer neuen Art von Lichtspiel und macht die Vorhölle von 4 Uhr morgens zu einem aufregenden Wartesaal, während das Gehirn seine Schalter umdreht, um vom Traumland zum Bewusstsein und zurück zu wechseln. Es ist ein großer Knall zu einem kleinen Preis für diejenigen, die keine Angst haben, auch die andere Seite der Medaille zu entdecken – das kalte, leere Gefühl dessen, was auch als die ungöttlichste Stunde des Tages bezeichnet wird.

Foto: Isabella Nadobny

Illustration: Heike Fischer

Illustration: Heike Fischer

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Kategorie: Gesellschaft

Adela Lovric

Von den Fallen des südeuropäischen Lebensstils abgewandt, ließ sich Adela Lovric 2013 nach dem Abschluss der Kultur- und Medienwissenschaften in ihrer Heimat Kroatien in Berlin nieder. Seitdem teilt sie als freie Journalistin ihre Besessenheit mit kreativen Bestrebungen anderer und lernt die lokale Kulturszene besser kennen – ein unbezahltes Praktikum folgt dem anderen. Heute gehören Bücher und Natur als Gegenmittel zu Berlins fabelhaften, aber frivolen Kunst- und Partyzirkeln zu ihrem Alltag.

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