Gesellschaft
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Wir haben alle Schlafprobleme

Manche Menschen leben gegen die Zeit. Sie arbeiten, wenn wir schlafen und gehen ins Bett, wenn wir frühstücken. Ich war unterwegs mit einer dieser Nachteulen.

Dieser und andere Beiträge erschienen als Kurztexte in der taz im Rahmen des Mentorenprojekts „Printjournalismus“.

Es ist Donnerstag, 1.52 Uhr nachts, und ich wache auf, obwohl mein Wecker erst um 2 Uhr klingeln soll. Ich öffne ein Auge und überlege kurz, ob ich diese acht Minuten Schlaf noch genießen kann. Stattdessen sammle ich meine innere Kraft und stehe auf. Da draußen ist es bestimmt kalt. Ich erinnere mich an die Hinweise, die ich gestern in einer Nachricht von Matthias bekommen habe: „Trage warme Schuhe und Hosen, packe aber deinen Oberkörper nicht zu dick ein.“ Vorsichtshalber ziehe ich noch ein zweites Paar Strumpfhosen unter die Jeans. Noch einen Schluck Ingwertee und ich muss gehen, mein Bus fährt um 2.28 Uhr.

Illustration: Michalina Kowol

Es warten noch vier oder fünf Personen mit mir an der Haltestelle, niemand redet, alle blicken in die gleiche Richtung, aus der der Bus bald auftauchen sollte. Vor dem Späti um die Ecke stehen noch acht oder neun Menschen um die 20, rauchen noch eine Zigarette und trinken das letzte Bier aus, sich totlachend. Der Bus kommt, und drinnen herrscht wieder Stille. An der Friedrichstraße muss ich umsteigen: Die sieben Minuten, bevor die Straßenbahn kommt, wirken länger, als sie sind. Es ist kalt und langweilig, ich beobachte alles, was um mich herum passiert. Was sind diese gläsernen Gebäude? Büros? Wer würde so viele Zimmerpalmen in ein Büro stellen? Jemand macht in der Sparkasse gegenüber Gymnastikübungen, streckt sich, geht in die Hocke. Vielleicht der Wachmann. Es kommen noch andere Personen: einige Menschen, deren Feierabend sich ziemlich verlängert hat, ein sehr müdes Pärchen, eine junge Frau mit großer Reisetasche. Bald werden wir Reisegefährten sein, denn die Straßenbahn hört man schon von weit her. Vielleicht, weil es auf der Straße so ruhig ist; vielleicht, weil wir sie kaum erwarten können.

Um 3.21 Uhr erreiche ich die S- und U-Bahnstation Pankow. Ich bin die einzige Person, die hier aussteigt; soweit ich sehen kann, bin ich die einzige Person in der Gegend. Ich warte in einem Bistro auf Matthias. Er hat mir gesagt, dass er hier immer einen Kaffee trinkt. Ich bestelle einen Cappuccino. Bald kommt Matthias und bestellt einen schwarzen Kaffee. Die Arbeit wartet, die Getränke trinken wir unterwegs aus.

Matthias

Illustration: Michalina Kowol

Matthias ist 34 Jahre alt und arbeitet seit einem Jahr sechs Nächte in der Woche als Zeitungszusteller. Obwohl er, wie ich, polnische Wurzeln hat, reden wir Englisch, da er die meist Zeit seines Lebens in den USA gelebt hat. Seinen polnischen Namen nutzt er deswegen auch nicht. Auf dem Zustellpunkt warten schon die Zeitungspakete. „Druckfrisch,“ denke ich. „Das ist das Schlimmste,“ sagt Matthias, als er die Zeitungen in das blaue Transportwägelchen packt, und zeigt mir seine Hände. „Die Tinte färbt maßlos ab“.

Matthias zündet eine Zigarette an. Ich schaue mich um, ich war noch nie in der Gegend, und bestimmt nicht um 4 Uhr nachts. „Siehst du den Himmel?“ sage ich. „Er ist so tief dunkelblau.“ Matthias lächelt und setzt das Wägelchen in Bewegung. Die Arbeit hat angefangen, die Strecke, die Matthias jede Nacht zu Fuß läuft, ist elf Kilometer lang.

„Alles hier sieht identisch aus“, sagt er. Es stimmt. Gleiche Gebäude, in gleichen Reihen. Matthias bewegt sich schnell und automatisch. Von dem Schlüsselbund hängen Schlüssel, die gelb, rot, blau, grün gekennzeichnet sind. Matthias stoppt bei manchen Türen, bei anderen nicht. Er nimmt die Zeitungen aus dem Wägelchen, ohne hinzusehen, ob die Titel stimmen. Deswegen sortiert er sie ganz am Anfang, erklärt er mir. Auf dem Weg kann er sie, auch wenn es regnet, hervorholen, ohne sie aufzudecken.

Zunächst warte ich draußen, während er die Zeitschriften zustellt. „Manchmal versuche ich, die Zeitungen so schnell wie möglich zuzustellen. Und manchmal versuche ich, das Gleiche zu machen, aber ohne die Lichter anzumachen“, sagt Matthias.

Ich kann sowieso nicht gut schlafen

„Komm doch rein“, sagt er bei der nächsten Tür. „Es ist so kalt, du wirst sehen, auch die zwei Sekunden, die du drinnen bist, helfen extrem.“ Jetzt merke ich, dass die Gebäude doch nicht identisch sind. Ich fange an zu vergleichen, wie die Wände im Treppenhaus gestrichen wurden. Ob es Teppiche gibt. Wonach es riecht. Wer mehr und wer weniger heizt.

Illustration: Michalina Kowol

„Warum machst du das?“ frage ich. „Ich hatte eine Krise, eine allgemeine, aber vor allem eine finanzielle“, lautet die Antwort. „Ich brauchte irgendwas, und diesen Job habe ich zufällig gefunden.“ Neue Straße – hier öffnet der gelb gekennzeichnete Schlüssel die Türe – und neue Zigarette. „Gut, aber würdest du nicht lieber etwas Anderes machen?“ insistiere ich. „Etwas tagsüber, meinst du?“ „Ja.“ „Nein, eigentlich nicht. Ich kann sowieso nicht gut schlafen. Sonst würde ich zu Hause einen Film gucken. Oder PlayStation spielen.“ Rosa Schlüssel. „Ich denke, meinen Kollegen geht es ähnlich“ fährt Matthias fort. „Die triffst du aber nicht so oft, oder?“ „Überhaupt nicht. Aber als ich noch in dem anderen Zustellbezirk in der Schönhauser Allee gearbeitet habe, da arbeitete ein Mann mit mir, dessen Frau krank war. Deswegen hat er nachts gearbeitet, und sie tagsüber gepflegt. Ich denke, wir haben alle Schlafprobleme.“ „Fandest du es nicht spannender, dort zu arbeiten? Lebendiger?“ „Ja, schon. Es war aber auch komplizierter, dort gab es Wohnungen, die ziemlich versteckt waren, in den Höfen und so. Hier ist es unkompliziert. Und ich habe auch keine Probleme damit, unsichtbar zu sein. Normalerweise höre ich mir ein Audiobook an. Letztens habe ich Michael-Crichton-Bücher gehört. Airframe, Sphere, The Terminal Man.“

Ich wäre lieber Krankenpfleger

Illustration: Michalina Kowol

Jetzt können wir das Wägelchen kurz stehen lassen. Matthias kennt alle Abkürzungen. Hier lohnt es sich, den Rasen zu betreten. Dort ist der Gehweg günstiger. Wenn wir mit der Zustellung auf den beiden Seiten der Gebäudereihe fertig sind, werden wir das Transportwägelchen wieder finden. „Nicht schlecht“, sagt Matthias. „An meinen langsameren Tagen hatte ich das gleiche Timing.“ Eine Zigarette. „Siehst du diesen Mann da? Er läuft täglich hier herum, holt das Auto, macht eine Runde und holt seine Frau von Zuhause ab. Dort kommt eine Frau, die ihren Hund ausführt. Sie treffe ich zwei Mal jede Nacht. Wahrscheinlich lässt der Hund sie nicht schlafen. Und hier wohnt eine Dame, die zwei Katzen hat. Sie verbringen die Nacht draußen und ich lasse sie morgens wieder rein. Sie hat mir zu Weihnachten eine Kleinigkeit geschenkt, obwohl sie gar keine Zeitung abonniert hat.“ Heute ist nur eine Katze da.

„Eigentlich“, hebt Matthias wieder an, „würde ich sehr gerne eine Ausbildung machen. Zum Krankenpfleger. Am liebsten sogar Altenpfleger. Dann könnte ich in einem Seniorenheim außerhalb der Stadt arbeiten. Ich habe Psychologie studiert. Das Problem sind aber meine Deutschkenntnisse. Nach der Arbeit, morgens früh, habe ich keine Energie zum Lernen. Und abends ist es kompliziert. Aber hoffentlich schaffe ich es bald.“ Wir sind mit der Zeitungszustellung fertig. Mir ist kalt und ich bin müde. Ich wundere mich, wie spät es ist. Fast 7 Uhr. „Jetzt wird der Bus nach Hause vollgepackt sein mit Menschen, die zur Arbeit fahren“ sagt Matthias. „Und weißt du, was das Allerbeste ist? Ich habe jetzt Feierabend.“

Hauptbild: Michalina Kowol

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