Gesellschaft
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Moderner Ablasshandel

Das schlechte Gewissen ist ein Fegefeuer – über Kompensationsgeschäfte in der Kindererziehung.

„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“, reimte der Dominikaner und Ablassprediger Johann Tetzel 1500. Ein paar Münzen bezahlen und dafür von all seinen Sünden reingewaschen werden? Klingt verlockend.

Auch wenn der Ablasshandel 1562 in der Kirche verboten wurde, finden sich auch heute noch Anhänger dieses Prinzips: gestresste Eltern. Bei ihnen wandern jedoch keine Münzen mehr in Johann Tetzels Ablasskasten, sondern Eis, Geschenke und Reitstunden (oder darf es gleich das Pony sein?) zu den lieben Kleinen.

Grund für den Ablasshandel in der Kindererziehung ist häufig das schlechte Gewissen, dessen Gründe ebenso vielfältig sind wie ihre Kompensationsmöglichkeiten. Sei es, weil der Job zu wenig gemeinsame Zeit zulässt, der Spagat zwischen den eigenen und den Bedürfnissen des Kindes nicht so gut gelingt, wie man es sich wünschen würde, weil ab und an die Falschen die schlechte Laune und den Stress abbekommen oder Beziehungen in die Brüche gehen. In Zeiten der Doppelberufstätigkeit, vermehrter Alleinerziehender oder allgemein gestiegener Arbeitsbelastung hat sich dieses Gefühl eher noch verstärkt.

Martina Kröger ist Mutter und lebt mit ihren beiden Kindern, vier und sieben Jahre alt, in Berlin. Sie ist vom Vater ihrer Kinder getrennt und teilt sich das Sorgerecht: Der Große wechselt jede Woche zwischen Mama und Papa, die Kleine ist zehn Tage bei Mama und vier Tage bei Papa.

Sie selbst hat ihre Stelle als Coach im Bereich Vereinbarkeit von Familie und Beruf kürzlich auf 35 Stunden die Woche reduziert. Dort arbeitet sie insbesondere mit Frauen zusammen, die sich mit dem Selbstverständnis von Eltern zu Beginn der Elternzeit auseinandersetzen. Das ist auch zuhause ein Thema: Um in ihrem Job weiterhin erfolgreich zu sein, muss Martina ab und zu an Weiterbildungen oder Seminaren teilnehmen. Das bedeutet, dass es Phasen gibt, in denen sie die Kinder weniger sieht, als es beiden Seiten lieb ist, und da schleicht sich auch bei ihr das schlechte Gewissen ein: „Ich weiß, dass es ihnen bei den anderen Bezugspersonen gut geht, aber man kann individuelle Beziehung eben nicht ersetzen und na klar hab ich dann manchmal ein schlechtes Gewissen.“ Lachend erzählt Martina weiter: „Ich versuche natürlich, das zu kompensieren: Wenn ich jetzt wiederkomme, haben wir schon vereinbart, dass wir Freitagabend einen gemütlichen Kinoabend machen, mit Popcorn,  Chips und Süßigkeiten. Und sie dürfen aufbleiben, so lange sie wollen“.

Wiedergutmachung fällt jedoch nicht immer so entspannt aus wie bei einem schönen Kuschelwochenende. Im Alltag spiegelt sie sich häufig in Inkonsequenz wieder. „Viele Eltern möchten Stresssituationen mit ihren Kindern in der wenigen gemeinsamen Zeit aus dem Weg gehen und glauben, das tun sie, indem sie den Wünschen nachgeben“, erklärt die Erzieherin Petra Alfering. Solche Situationen kennt auch Martina gut: „Bei uns gilt die Regel, dass es gibt abends nichts Süßes mehr gibt, weil die beiden vom Zucker dann nochmal so richtig hochdrehen. Da lagen Kekse und sie wollten Kekse und ich habe gemerkt, wie ich innerlich dachte: Ach komm, jetzt gib ihnen den scheiß Keks, du warst gerade so lange weg, du bist am Wochenende wieder weg.“

Aber ist ein bisschen katholisches Laissez-Faire tatsächlich so dramatisch? Oder führt protestantische Sittenstrenge nicht oft zu noch mehr Stress? Jein. Natürlich ist keine Erziehung gescheitert nur weil die Vierjährige mal etwas länger wachbleiben darf, an Abenden, bevor Mama am nächsten Tag wegfährt. Dennoch liegt das größte Problem laut der Kinder-und Jugend-Psychotherapeutin Annalena Thomas darin, dass Eltern sich häufig nicht bewusst sind, aus welchem Bedürfnis heraus sie etwas tun. Wenn das Kind vor einer Reise der Eltern länger wachbleiben darf, sollten sich die Eltern unbedingt die Frage stellen, ob das wirklich im Sinne des Kindes ist oder ob es aus dem persönlichen Bedürfnis nach Nähe und Kuscheln heraus passiert und so gegen das Bedürfnis des Kindes geschieht, das müde ist und schlafen müsste. Im schlimmsten Fall können solche Situationen zu Verstrickungen innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung führen.

Wiedergutmachung kann auch egoistisch sein.

Ein Eis macht eben nicht nur den Sohnemann happy, sondern verhindert auch Tränen und Wutausbrüche in der gemeinsamen Zeit, die ohnehin schon zu kurz kommt, und das Geschenk macht nicht nur dem Gegenüber eine Freude, sondern den Schenker beliebter – zumindest kurzzeitig. Betreiben Eltern vielleicht Ablass sich selbst gegenüber?

Dabei ist das schlechte Gewissen oft viel größer als es eigentlich sein müsste, und negative Gefühle gehören eben zum Großwerden dazu. Der Ablasshandel scheint eine Spirale nach unten zu sein. Die armen Eltern, die sich ständig den Kopf zerbrechen und die Kinder, die eigentlich Routinen und Regeln brauchen, stattdessen aber für die Kompensationsmechanismen ihrer Eltern hinhalten müssen.

Lose-Lose-Situation – Wir brauchen einen Luther in der Elternerziehung!

Foto: Melissa/ Flickr

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