Gesellschaft
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Von Athen bis Rio, vom Mythos bis zur Realität

Die Olympischen Spiele sind vorbei. Doch die Eröffnungszeremonie bleibt im Gedächtnis – immerhin spiegelt sie Geschichte, Kultur und Gegenwart wider.

Das aus den griechischen Sagen stammende Olympia, ein antikes Ritual, das Herakles zu Ehren seines Vaters Zeus begründete, wurde allmählich von den griechischen Göttern verlassen, wurde historisch und seit 1896 als Olympische Spiele in der Welt verbreitet. Seitdem repräsentiert es neben den sportlichen auch die sozialen und kulturellen Aspekte jeder Stadt, die es erreicht. Diese sind vor allem bei den Eröffnungsfeiern zu beobachten.

Das Athener Rätsel

2004, als die Olympiade wieder in ihr Zuhause Athen zurückkam, kehrte auch der mythische Geist zurück. Zur Eröffnungszeremonie tauchten die olympischen Götter wieder auf und erzählten die Olympiageschichte von vorn. Da die griechische Existenz ohne Meer nicht vorstellbar ist, brachten die Griechen ihr Meer ins Stadion, transportierten die olympische Flagge mit einem gigantischen Papierboot dort hin und zündeten die olympischen Ringe auf dem Wasser an. Nach dem Wasser, das das wichtigste Element der Athener Zeremonie war, waren Plastiken dran, die die griechische Denkweise symbolisieren sollten. Die verschiedenen Epochen des Landes wurden von plastisch aussehenden Menschen dargestellt, über denen der blaue Eros – der griechische Gott der Liebe – schwebte und das Ereignis dominierte. Die Athener Zeremonie war so symbolisch und geheimnisvoll, dass sie für das Publikum ein Rätsel blieb und es träumerisch auf der Suche nach der Symboldeutung zurückließ. Und gerade über die Aura dieses Mysteriums staunte jeder.

Der Traum der Harmonie

Vier Jahre später versetzten die Chinesen das Publikum auf andere Art in Staunen. Da die Acht die chinesische Glückzahl ist, begannen 2008 Fou-Schlagzeuger am 08.08.2008 um 20:08 Uhr die Pekinger Eröffnungsfeier. Das, was diese Fou-Schlagzeuger so großartig machte, sodass man sich kaum eine Olympiaeröffnungszeremonie angucken kann, ohne sich an diese zu erinnern, war auch das Motto dieser Feier: Harmonie und Ordnung. Nach genau diesem Motto präsentierten dann tausende Darsteller und Darstellerinnen in unzähligen traditionellen chinesischen Kostümen die wichtigsten Aspekte chinesischer Geschichte und Kunst, vom Bau der Chinesischen Mauer bis zum Handel auf der Seidenstraße. Voller Sensation, voller Pracht. Eben ganz nach der typischen chinesischen Mentalität, alles harmonisieren und perfektionieren zu wollen. Sogar die Naturgesetze wurden ausgehebelt: Die chinesischen Gastgeber vertrieben den Regen am Eröffnungstag, tanzten gegen die Gravitation auf einer beleuchteten Kugel, flogen in die Luft, um die olympische Fackel anzuzünden. Alles in allem war die Pekinger Eröffnungszeremonie, die eine der teuersten und spektakulärsten aller Zeiten wurde, die Darstellung ihrer Einheit und Großartigkeit.

Von Pop-Art bis Pop-Kultur

Anlässlich der Olympiade stellten im Jahr 2012 auch die Briten ihr Land vor. Bei ihnen ging es aber mehr um die Individualität. Die britische Geschichte begann auf einem Modell des historischen Hügels “Glastonbury Tor” in einem Dorf und entwickelte sich dann nach und nach bis zur Industriellen Revolution, wobei die Arbeiter die olympischen Ringen schmiedeten, die schließlich gleichzeitig brannten. Das viktorianische Zeitalter, die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die Frauenrechtbewegungen, eine Schweigeminute in Erinnerung an die unbekannten Soldaten des Ersten Weltkriegs – alles wurde nacheinander abgedeckt.

Der chronologische Verlauf britischer Geschichte wurde allerdings an dem Zeitpunkt unterbrochen, an dem es endlich um die Kolonialzeit gehen müsste. Auf einmal tauchte der National Health Service mitsamt Personal auf. Da kamen plötzlich die guten Krankenschwestern und brachten die Kinder zu Bett – welch eine unschuldige Szene. Dann las ein Mädchen heimlich unter der Bettdecke ein magisches Buch, welches sich auf eine Passage der Harry-Potter-Geschichte bezog. Dabei betraten einige böse Figuren der britischen Kinderliteratur das Stadion, darunter auch Lord Voldemort, der das Publikum verzaubert und sein historisches Gedächtnis gelöscht haben sollte. Alle wurden so von den Biestern und Zauberern abgelenkt, dass kaum jemand auf die Idee kam, dass mit diesem Trick eigentlich die unangenehme Episode britischer Geschichte gerade beseitigt wurde. Danach wurden allmählich die zeitgenössischen Aspekte des englischen Lebens dargeboten. Das viktorianische England ist jetzt das Zuhause der lässigen Jugendlichen geworden, die in die Londoner Straßen wanderten, mit den Handys einander Herzchen und Küsschen sendeten und zu den bekannten britischen Popsongs tanzten.

Die Choreografie war nicht sonderlich spektakulär und die Kostüme nicht besonders extravagant. Alles war genauso einfach und leger wie die Jugendlichen selbst, die simsten und sich ihre Seifenopern anschauten, ohne darauf zu bestehen, unbedingt ordentlich oder identisch auszusehen. Und exakt das ist ja das Attribut der Popkultur; salopp, vielfältig und satirisch; hat keine Lust mehr auf Perfektion, Makellosigkeit und Erhabenheit. Wie die Kunstgeschichte, die erstmals in London zur Pop-Art kam, kam das Olympia auch in London zur Pop-Kultur. So begnügten sich die Engländer zu ihrer Eröffnungszeremonie mit einem minimalistischen London, bestand aus einem Riesenrad und einer Wolke, und machten Spaß über alles, was mal zu ernst war: Mr. Bean wurde einer der Mitglieder vom London-Symphony-Orchestra und James Bond warf die Königin mit einem Gleitschirm ins Stadion. Infolgedessen wurde die Londoner Zeremonie oft als populär, locker und lustig bezeichnet, anstatt als unglaublich oder grandios. Und allein schon deswegen war es den heutigen Menschen näher.

Die grüne Realität

In diesem Sommer erreichten die Olympischen Spiele endlich zum ersten Mal Südamerika – genauer gesagt Brasilien. In den Ozeanwellen des Atlantiks, symbolisiert mit silberblauen Luftkissen, spiegelte sich der Countdown der Eröffnungszeremonie im Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro. Die Brasilianer erzählten alles realitätsgetreu, ohne auch nur eine Lücke in der Geschichte zu lassen. Zu Beginn liefen riesige metallische Tausendfüßler und Krebse durch das Stadion, danach wurde zu indigener Musik der Bau der ersten Hütten dargestellt. Zunächst ging es überaus grün und friedlich zu – bis schließlich ein Gewitter aufkam, das die Ankunft der Portugiesen symbolisierte. Die Musik änderte sich schlagartig und wurde zur Symphonie der dramatischen Begegnung der Indios mit den Portugiesen. Die Realität schlug dem Publikum im Maracanã mit voller Wucht ins Gesicht.

Auch das moderne Gesicht Brasiliens wurde im Anschluss dargestellt, aber wie viele andere Aspekte dieser Zeremonie halb kritisch, halb feierlich: Mit einer alarmierenden Musik tauchten vom früheren farbigen Feld moderne Hochhäuser auf, über die Parkourläufer zum stressigen Rhythmus des urbanen Lebens sprangen. Dann war die Partyszene dran, die unbedingt zum brasilianischen Leben dazu gehört. Das Stadion wurde zu einem Diskoraum, vor allem mit elektronischer Musik, aber auch mit Rap – im Rio-Stil.

Und wie bei dem Aufwachen aus einem süßen Traum nach der Party von gestern Nacht, wenn man wieder erkennt, dass die Welt noch immer genauso problematisch ist wie gestern, wurde es danach im Maracanã wieder ernst. In einem Dialog hörte man zuerst über den Klimawandel und die Erderwärmung, in Hinsicht darauf wurde dann die schönste Idee dieser Veranstaltung mitgeteilt: Jedes Team, das das Stadion betretet, wird von einem jungen Menschen mit einem Pflanzensetzling begleitet, und jeder Sportler und jede Sportlerin aus ganzer Welt bekommt zusätzlich einen Samen, der man in dafür vorgesehenen Töpfchen pflanzen kann. Aus ihnen allen soll dann im Deodoro Olympic Park ein Wald entstehen. So war das Symbol der Rio-Olympiade ein umgewandeltes grünes Peace-Zeichen. Die Brasilianer waren das einzige Volk, das einen sehr realistischen olympischen Geist hatte, der bei den unangenehmen Aspekten menschlicher Geschichte – von der gestrigen Kolonisierung und Sklaverei bis zu den heutigen Umweltschäden – kein Auge zudrücken konnte. Aber außer realistisch war die Rio-Eröffnungszeremonie auch so einmalig; da wurde erstmals gerappt, Parkour absolviert, sogar das Thema Sex abgedeckt. Und zwar als sich der Chef des Olympia-Organisationskomitees Carlos Nuzman bei der Übergabe der Rede an Thomas Bach versprach und sagte: „Bach hat immer an den Sex (statt “Success”) geglaubt“. Ist auch nicht schlimm, wenn der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees immer an den Sex glaubte! Wichtig dabei ist, dass so ein Patzer ja auch so real klingt!
Und ja, es gab auch Samba. Zum Schluss tanzten tausende Brasilianer und Brasilianerinnen mit farbenfrohen Kostümen und ließen die Idee der Rio-Eröffnungsfeier in die Geschichte eingehen: Wenn es nicht wahnsinnig viel Budget gibt, kann man zumindest glücklich Samba tanzen, Samen pflanzen und sich eine schöne umweltverträgliche Olympiafackel ausdenken, die mit Wärme eines kleinen Feuers angetrieben wird.

Bild: guccio@文房具社 / flickr

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