Gesellschaft
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Home is where your weed is

Die Revaler Straße in Friedrichshain ist bekannt für Kriminalität, Uringeruch und dröhnende Dauerbaustellen. Warum es trotzdem schön ist, hier zu wohnen.

Ein Schwall Uringeruch steigt mir in die Nase. Auf der Tischtennisplatte sitzen zwei Jugendliche und hören Bushido mit dem Smartphone, während sie sich Lines auf selbigem legen. Auf dem Spielplatz drei Meter weiter sandeln ein paar Kinder. Welch unfassbares Glück ich doch habe, denke ich und trete meine Haustüre auf, in einer der berühmtesten Straßen Berlins wohnen zu dürfen: der Revaler Straße.

Googelt man „Revaler Straße“ erscheinen folgende Überschriften: „Gewalt in Berlin-Friedrichshain: Leiche von der Revaler Straße identifiziert“ (Tagesspiegel); „Berlin hat die Revaler Straße an die Dealer verloren“ (Bild); „Mord am RAW-Gelände: Musste ein Mann wegen 10 Euro sterben?“ (bz) – die Liste ließe sich ewig so weiter führen. Meine Mutter ruft mich zweimal pro Woche an, um zu fragen ob ich noch lebe.

Man könnte die Lebenssituation hier durchaus als „prekär“ beschreiben. Das Wort prekär passt besonders gut, wenn man gerne schlauklingende Fremdwörter benutzt, um banale Dinge zu beschreiben – hier deutet es zudem die Fallhöhe des Beobachtenden gegenüber des Beobachteten an. Man könnte auch einfach das Wort „abgefuckt“ benutzen. Wegen der Großbaustelle, die seit geraumer Zeit den Boden ums Ostkreuz zum Beben bringt, sind in unserer Wohnung zwei Fensterscheiben gesprungen, worum sich keiner schert. Es gibt einen Aufzug ohne Licht der nur manchmal funktioniert. Weil die Haustüre kaputt ist, haben sich ein paar Obdachlose in den oberen Stockwerken eingerichtet. Was das Verschwinden unserer Fußmatte erklären könnte.

Warum liegt hier eigentlich Stroh?

Es wäre vollkommen unpassend, eine Wohnung in diesem Haus im cleanen Mittechic einzurichten – nur (und absolut nur) deshalb hängt in der Küche noch das Lametta von Weihnachten in der Pflanze, die immer weiterwächst obwohl keiner sie gießt. Es gibt zwei Tafeln, auf die immer wieder neue schlaue Sprüche geschrieben werden – meine Mitbewohner sind da sehr kreativ. Zurzeit steht da: „Wish you were beer“ und „Home is where your weed is“. Am Kühlschrank hängt ein Foto von Schrotti, der ehemaligen WG-Katze. Warum liegt da Stroh? Weil es aus unserem Sofa fällt. Außerdem haben wir einen Pool (ein Kinderplanschbecken mit Flicken), in dem ein Flamingobecherhalter schwimmt. Willkommen bei Schöner Wohnen.

Es hat aber auch durchaus Vorteile, in einer Straße zu wohnen, an der im Minutentakt die S-Bahn vorbeifährt, spanische Touristengruppen lautgrölend durch die Gegend ziehen und sich am Wochenende die Musik von drei verschiedenen Technoclubs zu einem undefinierbaren Geschäpper mischt: Man kann hier zum Beispiel selbst sehr laut Musik hören, aus dem Fenster aschen oder nachts Wäsche waschen. Zum Ausgehen hat man es nicht weit. Es gibt Lametta. Und Flamingos. Eventuell kippen wir das schmutzige Wasser aus dem Pool gelegentlich über das Balkongeländer auf die Straße. “Is mir egal”, sagt selbst die BVG.

Schnaufend im fünften Stock angekommen – Aufzug hat heute nicht funktioniert – mischt sich das Sirenengeheule von draußen mit dem Schnarchen von Tim, unserem Obdachlosen, über den ich steigen muss um in meine Wohnung zu kommen. Vielleicht sollte ich meine Mutter mal wieder anrufen.

Foto: Jana Weiss

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