Gesellschaft
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Ein paar Quadratmeter Weltgeschichte

Ein Zimmer wie kein zweites. Foto: Juliane Liebert

David Bowie, Prince und Lemmy starben alle im Bett unserer Autorin. Eine Liste der Ereignisse, die in ihrem Neuköllner Zimmer noch geschahen

Dies ist eine Liste der Ereignisse von weltpolitischer Bedeutung, die in meinem Zimmer geschahen, in chronologischer Reihenfolge. Sie wurde nach bestem Wissen und Gewissen erstellt und beruht auf einer Recherche, die so gründlich ist, wie die Recherche einer Person, die prinzipiell vom Bett aus arbeitet, sein kann. Es könnte sein, dass ich heute – es ist der 1. Mai 2016, 13.23 Uhr, bei genau 18 Grad – einige Dinge verzerrt darstelle. Ich bitte die kommenden Generationen beim Studium dieses Textes zu bedenken, dass ich ein Kind meiner Zeit, also beeinflussbar und in manchem ungenau bin. Das mindert nichts an der Relevanz der aufgeführten Geschehnisse.

03.07.1912

Im Juli 1912 gibt es mein Zimmer noch nicht. An der Stelle, wo heute der Bau steht, ist eine Siedlung vor den südlichen Toren Berlin-Cöllns. Der Ort hat keinen guten Ruf, trotzdem ist an diesem Tag Greta von Heyden hier, um ihren Vetter Karl zu treffen, mit dem sie Reißaus vor dem verhassten Elternhaus nehmen will. Sie werden vier Jahre später, in Mainz, einen Sohn namens Ludwig bekommen, der wiederum Vater von Johanna Schmidt werden wird, deren Wichtigkeit wir später noch erörtern werden.

29.04.1945

Anton Garheimer, nach anderen Quellen auch Alexander Garheimer, beobachtet von meinem Fenster im 2. Stock aus, wie die Alliierten einziehen und überlegt, ob er sich erschießen soll. Er hält die Pistole schon in der Hand, hat aber keine Kugeln mehr, deshalb lässt er es bleiben.

09.11.1989

Stefanie Fischer, damals neun, verschläft in ihrem Kinderbett die Wende.

01.01.2000

Die Welt geht, entgegen diverser anders lautender Vorhersagen, nicht unter. Es bricht kein Chaos aus, das Einzige, das explodiert, sind die Neuköllner Böller. Stefanie Fischer, inzwischen volljährig, seufzt erleichtert auf und schenkt allen Sekt ein.

04.11.2010

Alex K. gesteht mir betrunken seine Liebe, um das drei Tage später (nüchtern) wieder zurückzunehmen.

04.11.2011

Ein Umstand, der mich für mehrere Jahre in vollkommene Verwirrung stürzt.

04.11.2012

Ich bin immer noch verwirrt, das Weltgeschehen rollt davon unbeeindruckt weiter: Israel greift den Gazastreifen an, China kürt eine neue Führung und Sebastian Vettel wird wieder Formel-1-Weltmeister. Eine Freundin und ich finden einen Tisch auf der Straße, den ich von da an verwende, um eine Lampe in Form eines Hundes darauf abzustellen.

05.11.2012

Eine der beiden Glühbirnen der Hundelampe geht kaputt und bleibt es bis heute.

An dieser Stelle muss ich, um der Exaktheit willen, eine Untersektion aufmachen, Liste der Dinge von weltpolitischer Bedeutung, die in meinem Bett geschahen. Sie beginnt jetzt:

13.11.2015

Die Pariser Anschläge. Sie geschahen nicht DIREKT in meinem Bett, aber ich erfuhr in meinem Bett von ihnen. In diesem Sinne sind auch Prince, David Bowie und Lemmy in meinem Bett gestorben, und ich kann nur sagen: Meine Schuld war es nicht. Sie müssen wissen, ich bewege mich nicht viel, und ich habe, wie ich gerade feststelle, Johanna Schmidt vergessen. Sie erinnern sich? Was war denn noch gleich mit ihr?

04.01.2016

Mein Bett bricht in sich zusammen. Ich repariere es mit einem Schnürsenkel, den ich geschickt an einem der vier Pfosten anbringe.

03.04.2016

Die Panama Papers werden veröffentlicht. Mein Herz setzt vor Schreck einen Augenblick aus, bis mir wieder einfällt, dass ich nie auch nur ein Sparschwein besessen habe. Ich danke Gott und bestelle mir von meinen letzten zehn Euro eine Pizza.

30.04.2016

Es wird Frühling.

 

Foto: Juliane Liebert

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