Gesellschaft
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Der Wahnsinn hält uns warm

Zigaretten statt Blumen: Vier Freunde treffen sich in Berlin, um einen Toten zu verabschieden. Eine Geschichte über lange Nächte, Gin Tonic und einen besonderen Friedhofsbesuch

Es ist Anfang Dezember und der Platz um die Berliner Gedächtniskirche sieht aus wie die Horrorversion eines Coca-Cola-Weihnachtsspots. Alles leuchtet und blinkt, Kunstschnee mischt sich mit Regen und Stadtdreck zu pappigen, graubraunen Klumpen, Menschen hetzen vollbepackt mit Einkaufstüten von einem Geschäft zum nächsten. In der Luft liegt der liebliche Duft von Currywurst und Glühwein.

Wir treffen uns in der Lobby des Ellington-Hotels zum Frühstück. Auch hier lässt ein riesiger Christbaum keinen Zweifel daran, dass bald Weihnachten ist. Zwischen Brötchengeknusper und Kaffegeschlürfe wird ein bisschen geplaudert, der letzte Abend hängt uns allen noch in den Knochen: Wiedersehen nach vielen Jahren, drei alte Freunde, die die besten Jahre ihres Lebens gemeinsam verbracht haben, quasi Familie. Andreas, Christian, Blanka (ich bevorzuge es, sie Mama zu nennen). Viel Gin Tonic. Und ich.

Ich war schon immer merkwürdig. Im Kindergarten wollte ich nur mit den älteren spielen. Heute hänge ich eben mit den Freunden meiner Mutter rum. Die rezitieren Heinz Erhard und Loriot und erzählen von Zeiten, als man noch im Flugzeug rauchen durfte und in denen junge Menschen noch Ideale hatten.

Vermutlich gibt es da einen Zusammenhang. Die wissen, dass Detox was für Waschlappen ist und kennen das gute alte Nuttenfrühstück, bestehend aus Kaffee und Zigaretten, nicht nur aus Californication. Die brüllen noch um vier Uhr morgens den Barkeeper an: Der Wahnsinn hält mich warm!, wenn er sie aus der Kneipe raus in die Kälte schmeißt. Okay, das ist vielleicht in den Achtzigern passiert.

Auf den Tellern liegen nur noch Krümel. Der Kaffee ist ausgetrunken und tut so langsam seine Wirkung: Die Stimmung hebt sich, die ersten Gemeinheiten des Tages werden ausgetauscht, Christian lacht sein schallendes Lachen und lindert damit meinen Kater für einen kurzen Moment. Christian ist groß, kräftig, bärtig, mit dem Charme eines englischen Lords, der Redegewandtheit eines Oscar Wildes. Er ist 47 Jahre alt, erfolgreicher Modefotograf und Abonnent der ZEIT. Als er 1987 von Pforzheim nach Berlin-Charlottenburg zog, weil er sich unsterblich in einen Jungen namens Henri-Michelle Derivaut verliebt hatte, arbeitete er zweimal die Woche in einem Frisörsalon, wo er der Liebling der alten Damen war. Die kamen oft nur seinetwegen. Er machte ihnen dann schöne Föhnfrisuren und Komplimente und die Damen vereinbarten beim Gehen den nächsten Termin, Waschen, Fönen, wie immer. Am Wochenende arbeitete er als Zauberkünstler in einem Travestie-Varieté, der Lützower Lampe. Vor seinem ersten Auftritt wurde er gefragt, ob er sich vorstellen könnte, auf der Bühne Frauenkleider zu tragen. Er sagte Nein, und wurde fortan als Attraktion angekündigt: ein „richtiger“ Mann in Männerkleidern, Applaus, Applaus.

Der Kellner kommt und räumt die Teller ab, fragt, ob es noch etwas sein dürfe, Christian sagt mit theatralischem Unterton: „Wenn ich noch einen Bissen esse, dann platze ich“, der Kellner daraufhin: „Also ich mach’s nicht weg!“, alle lachen.

Wir brechen auf, mit dem Auto durch die überfüllten Straßen West-Berlins, raus aus der Stadt über die Avus Richtung Potsdam. Unser Ziel ist der kleine brandenburgische Ort Stahnsdorf, um genauer zu sein, der Südwestkirchhof Stahnsdorf. Er ist der zweitgrößte Friedhof Deutschlands, in Betrieb genommen wurde er 1909. Seitdem wurden viele berühmte und nicht berühmte Menschen hier begraben, die meisten vor der Teilung Deutschlands. Auch zu DDR-Zeiten wurde der Friedhof genutzt, aber viel weniger als zuvor. Wer aus dem Westen kam und seine Angehörigen hier besuchen oder gar bestatten lassen wollte, musste Anträge stellen, das war kompliziert und dauerte lang, also ließen es die meisten Menschen bleiben.

Einer der Nicht-Berühmten, die hier begraben liegen, ist mein Vater. Er starb vor zehn Jahren an Lungenkrebs, da war er 37, übergewichtig und pleite, weil er all sein Geld für Kokain rausgeschmissen hatte. Soviel ich weiß, waren die einzigen sozialen Kontakte, die er zu dieser Zeit hatte, zu seinen beiden Katzen und seinem Nachbarn Jens, der ihm ab und an Lebensmittel brachte. Mein Vater, ich nenne ihn lieber Bert, war sehr krank, schon lange bevor der Krebs ausbrach. Er litt an einer extremen Form der Agoraphobie, eine Angststörung, die sich bei ihm speziell auf öffentliche Orte mit vielen Menschen bezog. Erste Symptome der Krankheit zeigten sich, als er Anfang 20 war, und verschlimmerten sich im Laufe der Zeit so sehr, dass er seine Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Die gängigen Medikamente halfen nur mäßig, sorgten aber dafür, dass er furchtbar aufgedunsen war. Deshalb fing er irgendwann an, sich selbst mit Kokain zu therapieren.

Wir fahren weiter, vorbei an der ehemaligen Grenze, die aussieht wie die Attrappe eines postapokalyptischen Science-Fiction-Films. Vorbei am Wannsee, wo sich eine protzige Villa an die nächste reiht.Vorbei am Elisabeth Sanatorium, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts gebaut und als Lungenklinik genutzt wurde, während des Bestehens der DDR dann als Hautklinik. Die Wende hat es nicht überstanden – seit 1994 steht das Backsteinhaus leer und verfällt.

Schnell verschwimmt das verlassene Haus hinter den Regentropfen an der Scheibe, verschwindet in der trüben Ferne. Draußen regnet es wie in Strömen. Im Auto läuft Mazzy Star, Fade Into You, außer Hope Sandoval schweigen alle.
I look to you and I see nothing /
I look to you to see the truth
singt sie mit sanfter Stimme.
Ich fühle mich wie in einem Film: Als könnte ich mich selbst sehen, wie ich da auf der Rückbank sitze und mit leerem Blick die Regentopfen anstarre, während die Hintergrundmusik die Szene zu etwas sehr Bedeutendem erhebt.

„Die wollte ich immer heiraten“, sagt Andreas. „Wen?“ – „Na, Hope Sandoval.“ Andreas hat eher etwas von einem Lausbuben, als von einem englischen Lord, aber auch er ist sehr charmant. Auf seine eigene Weise. Als ich gerade laufen konnte und er Anfang 20 war, pennte er eine Zeit lang bei meiner Mutter auf dem Sofa. Wenn er nach der Arbeit nach Hause kam, legte er erst mal die Füße hoch und rief: „Mudder, mach mal Kaffee!“. Als meine Mutter entgegnete, er solle ihn selbst machen, sagte er zu mir: „Jana, mach mal Kaffee!“. Einmal hab ich angeblich auf seinen Koffer gekackt, er nimmt es mir nicht mehr übel.

Andreas, Bert und Christian waren früher die besten Freunde. Sie wuchsen in der gleichen westdeutschen Kleinstadt auf, besuchten zusammen die Realschule. Nach dem Abschluss zogen sie in eine andere westdeutsche Kleinstadt, nach Pforzheim, wo sie meine Mutter kennenlernten. Sie und Bert fingen etwas an, aber es war für keinen der beiden die große Liebe. Er war 21, sie 31 und als sie nach einem halben Jahr schwanger wurde, reagierte er so, wie vermutlich die meisten 21-Jährigen reagiert hätten: Er wollte frei sein, nach Berlin ziehen, war doch selbst noch ein halbes Kind, wollte keine Verantwortung übernehmen. Sie wollte das Kind trotzdem bekommen, auch wenn er es nicht mit ihr aufziehen würde. So kam es dann auch – ich habe meinen Vater nur einmal getroffen. Da war ich elf und er schon kokainsüchtig. Wir sind im Spreewaldpark Achterbahn gefahren.

Wir kommen am Friedhof an. Das riesige gusseiserne Tor, das den Waldfriedhof von seiner Umgebung abgrenzt, sieht nicht gerade einladend aus. Wir bleiben noch einige Minuten im Auto sitzen. Der Regen prasselt monoton aufs Dach, all die blöden Witze und Pöbeleien sind verstummt. Für uns alle ist das hier mehr, als wir zugeben wollen. Und natürlich geht es hier nicht um Bert, sondern um uns. Um das, was jeder hier auf dem Gewissen hat, die Zeitreisen, die jeder gerne unternehmen würde, in die Vergangenheit, um alles besser zu machen. Meine Mutter sagte ein Mal zu mir: Es konnte doch keiner wissen, dass Bert so früh sterben würde.

Aber er tat es, und wie das immer so ist, wenn jemand viel zu früh stirbt, wusste keiner damit umzugehen. So viel hätte man noch sagen wollen, in diesem Fall vor allem: gutmachen. Dass man den Kontakt hat einfach abrechen lassen, als es schwierig wurde. Es nicht genug versucht hat. Dass man sauer war, weil das eigene Leben nicht immer so lief, wie man es sich wünschte, und er übernahm nicht den Funken einer Verantwortung. Und dass man überdies so mit sich selbst gehadert hatte, dass man nicht mal zu seiner Beisetzung gehen konnte. Deshalb sind wir jetzt hier: Wir inszenieren eine Beerdigung.

Wir steigen aus, spannen die Regenschirme auf, die wir extra gekauft haben. Sie sind bunt. Es gab keine anderen mehr. Durch das gusseiserne Tor betreten wir den Waldfriedhof, der im Sommer sicher wunderschön ist. Aber jetzt ist alles grau. Beinahe lautlos laufen wir über den weichen Moosteppich, der über dem schmalen Weg liegt, achtsam, um nicht über die dicken Wurzeln zu stolpern, die den Pfad durchziehen. Christian kennt den Weg. Wir anderen folgen ihm, vorbei an vielen Bäumen und verfallenen Gräbern, vorbei an Statuen und einem kunstvollen Brunnen, bis wir endlich da sind, am Urnenbeet. Hier ist nichts kunstvoll, dafür aber auch nicht kitschig. Keine riesigen Blumenbouquets und Engelsfiguren. Zwischen nassem Laub und ästen ruhen unauffällig Backsteine, auf denen meist nicht mehr steht, als ein Name. Keiner würde im Vorbeigehen darauf kommen, dass hier Menschen begraben liegen. Mit den Füßen schieben wir Laub und Erde von den Steinen, um den Richtigen zu finden. Und da ist er auf einmal: Bert Kripzak steht darauf.

Wir versammeln uns um den Stein um eine letzte Kippe mit Bert zu rauchen. Liebevoll legen wir dazu eine Zigarette auf sein Grab. Blumen gibt es keine. Wir sind bestimmt die unorthodoxeste Trauergemeinde aller Zeiten: mit den bunten Schirmen, der letzten Zigarette für einen Toten, der an Lungenkrebs gestorben ist. Wir beschließen, dass wir das nicht zynisch finden, sondern ehrlich.

Und dann: Keine Katharsis, aber auch keine Katastrophe, Erleichterung irgendwie. Das alles hilft mir nicht, meinen Vater kennenzulernen. Aber es hilft mir, zu wissen: Ich habe trotzdem eine Familie, eine etwas verrückte zwar, aber eine, die ich liebe.

Plötzlich hört es auf zu regnen, die Sonne bricht durch die Wolken und scheint durch die blattlosen äste auf unsere Runde.

– Nein, das ist gelogen. Wie pathetisch das auch wäre.

Es schüttet immer noch aus Kübeln und wir fahren zurück in die Stadt, um ein bisschen über den Weihnachtsmarkt zu schlendern, durch den kalten Regen. Der Wahnsinn hält uns warm.

Foto: Jana Weiss

 

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