Gesellschaft
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Schöne neue Welt

UNICEF-Mitarbeiter impft ein Kind in der zentralafrikanischen Provinz Nord-Kivu. by Julien Harneis. - http://www.flickr.com/photos/julien_harneis/3028135598/. CC

In diesem Jahr läuft der Entwicklungsplan der UN aus. Der nächste große Wurf ist schon in Planung

Die Welt erstarrt im neuen Kalten Krieg. In Afrika tobt noch immmer das Ebola-Virus. Syrien versinkt im Bürgerkrieg. Europa schwankt, von Finanzkrisen und Nationalismen getroffen und die grausamen Anschlägen auf Charlie Hebdo werden zum Symbol für die Bedrohung der Meinungsfreiheit. Wäre man zynisch, man könnte sagen, der IS ist die letzte politische Utopie unserer Tage. Positive Zukunftsvisionen: Fehlanzeige!

Doch das Jahr 2015 ist nicht nur ein Jahr, in dem Utopien frühzeitig sterben, sondern auch eines, in dem neue entstehen. Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit arbeitet die Weltgemeinschaft daran, einen Plan für eine bessere Welt aufzustellen. Einen Plan, wie er allerdings vor 15 Jahren schon einmal erdacht wurde. Der alte Plan endet in diesem Jahr. Der neue steht gerade erst am Anfang.

Die Visionen unserer Tage verbergen sich hinter Abkürzungen. Die erste lautet SDG und steht für Sustainable Development Goals. Das sind die weltpolitischen Ziele, denen sich die UN 2015 verschreiben wollen. Die zweite Abkürzung lautet MDG, Millennium Development Goals. Vor 15 Jahren haben sich die Staats- und Regierungschefs aus über 150 Ländern ein gemeinsames Ziel gesetzt: Bis zum Jahr 2015 wollten sie acht konkrete Ziele erreichen. Bekämpfung von extremer Armut, von Hunger und von Missständen in Bildung und Gesundheit. Es waren acht Utopien. Was davon wurde heute tatsächlich erreicht?

Wenig versucht, viel erreicht

„Konkrete Ziele zu haben und diese zu messen, das war der neue Ansatz“, sagt Entwicklungsexperte Martin Adelmann vom Arnold-Bergsträsser-Institut der Universität Freiburg. „Es sind enorme Fortschritte gemacht worden. Gerade bei der Bekämpfung der Armut.“ Halbierung extremer Armut war das erste der acht Ziele: Die Zahl der Menschen halbieren, die pro Tag weniger als 1,25 US-Dollar zur Verfügung haben. Das Ziel wurde bereits im Jahr 2010 erreicht. Von 47 Prozent konnte der Anteil auf 22 gesenkt werden. Das sind 700 Millionen Menschen weniger.
Die Zahlen sprechen bei den meisten der acht Ziele für einen Erfolg. Trotzdem ist das Elend geblieben, vor allem in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Noch immer sterben täglich 18.000 Kinder unter fünf Jahren – meist aus vermeidbaren Gründen. Und noch nie gab es so viele HIV-Neuinfektionen wie heute. „Die MDGs waren kein Erfolgsmodell“, meint deshalb Jens Martens vom Global Policy Forum in Bonn. „Eigentlich ist ohnehin fast alles auf die Politik der Länder zurückzuführen und nicht auf die Entwicklungspolitik. Die Entwicklung der 70er und 80er Jahre wurde einfach fortgeschrieben.“

Armutsentwicklung nach Regionen by Angela Aumann

Entwicklung der Armut in den Regionen der Welt (Grafik: Angela Aumann)

Tatsächlich ist das Basisjahr der MDGs 1990 und nicht 2000. Manche Ziele waren damals schon fast erreicht. „Das ist kein exponentielles Wachstum, sondern eine Fortschreibung“, meint Martin Adelmann. „Auch vor den MDGs haben sich die Einschulungsraten erhöht, ist die Armut gesunken. In China beispielsweise ist die Verringerung extremer Armut vor allem durch das Wirtschaftswachstum erreicht worden.“

Geschichte wird gemacht

Sehen so etwa die gesellschaftlichen Utopien unserer Tage aus? Sich großspurig Dinge vornehmen, die ohnehin eintreten. Was kommt als nächstes? Sonnenaufgänge und regelmäßige Erdumdrehungen als Millenniumsziele?

Eine Utopie, das bedeutet doch auch, dass man sich anstrengen muss, um etwas zu verändern. Ein Streben nach dem, was (noch) nicht da ist. Eine Utopie war nie eine bloße Wunschvorstellung. Von Beginn an war sie ein Mittel, um Missstände in bestehenden Gesellschaften offen zu legen. Deshalb sind sie auch heute noch so wichtig. So erzählt Thomas Morus in seinem „Utopia“ zwar von einer Insel, auf der die Menschen in einem vollkommenen Gesellschaftssystem leben. Der Roman von 1516 phantasiert dabei aber nicht nur über Neues, sondern prangert gleichzeitig die sozialen und gesellschaftlichen Missständen der damaligen Gesellschaft an. Und wird damit zum Prototyp vieler Utopien – von Grimmelshausen bis zu Schnabel.

Beim Sprung in die Moderen durchlebt diese Vorstellung dann einen entscheidenden Wandel. Sie wird von einer örtlichen zu einer zeitlichen Vorstellungswelt, zur Zukunftsutopie. Die Utopie ist nicht länger ein unzugänglicher Ort, sondern ein Zustand in der Zukunft, den es zu erreichen gilt.

Der finale Schritt zur Realisierbarkeit aber trägt den Namen Karl Marx. Und auch wenn er selbst widersprechen würde, sein Kommunistisches Manifest ist eine zur Wissenschaft gewordene Utopie. Und als Wissenschaft kann sie zur Politik werden. Geschichte wird nicht mehr ertragen, sondern – aus der Betrachtung der Vergangenheit und mit Blick in die Zukunft – weitergedacht. Geschichte wird gemacht.

Egozentrische Einzelkinder

Auch wenn es ein fragwürdiger Erfolg ist, den die UN mit den MDGs erzielt hat: Die Staatengemeinschaft hat neue Legitimation gewonnen. Legitimation, die sie in sicherheitspolitischen Fragen eingebüßt hat. Mit diesem neuen Selbstverständnis will man jetzt die großen Brocken angehen.

„Jetzt werden endlich Ziele für alle Länder geschaffen – auch für Deutschland“, sagt Jens Martens. „Es geht nicht mehr um relative, sondern um absolute Ziele: Beseitigung (nicht bloß Reduzierung) der extremen Armut beispielsweise. Das sind wesentlich ambitioniertere Ziele.“

Die neuen Ziele sind die SDGs. Sie führen die MDGs weiter, allerdings um die Aspekte der Menschenrechte und der ökologischen Nachhaltigkeit erweitert. Zum ersten Mal sind es auch Ziele für den Norden, für die Erste Welt. Für uns. Die Ziele sind damit wirklich global.

Wie aber soll sich die Weltgemeinschaft, dieser Club egozentrischer Einzelkinder, auf gemeinsame Ziele einschwören, die von allen Opfern abverlangen? Das Zustandekommen des Entwicklungsplans hat deshalb eher etwas von der Steuererklärung von Uli Hoeneß als von einer Vision für die Zukunft. Sprich, es geht extrem komplex und bürokratisch zu. Zwei parallel laufende Prozesse sollen zu den SDGs führen. Da ist zum einen der Post-2015-Prozess, in dessen Rahmen eine Agenda für die Zeit nach den MDGs erarbeitet wird. Zum anderen gibt es die Rio+20-Klimabeschlüsse, die primär die Nachhaltigkeit im Blick haben.

Ein Zeichen des guten Willens

Im September wird es sich entscheiden. Dann sollen die zwei großen Ströme aus Beratungs- und Koordinationsgremien in einem Becken zusammenfließen. Am Ende soll eine neue Utopie stehen, bei der es nicht mehr nur um Wachstum und Wohlstand geht, sondern um ein gutes Leben für alle Menschen.

Es wäre ein Zeichen nicht nur des guten Willens, sondern der ernsten politischen Anstrengung. Mehr noch als jeder symbolträchtige Trauermarsch durch Paris. Ein Beweis dafür, dass die Weltgemeinschaft nicht erstarrt angesichts der Krisen, sondern handelt. Mit Recht könnten wir dann die SDGs als letzte Utopie unserer Tage bezeichnen – mit Recht und mit Stolz.

Erschienen in: taz, die Tageszeitung vom 02.02.2015

Foto: Julien Harneis/flickr

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