Gesellschaft
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Dickes B – home an der Spree

Auf Anne Heigels Liste des Lebens steht ganz dick Berlin. Woher die Liste kommt und warum es gerade diese Großstadt ist? Hier erklärt sie es uns.

45.000 Menschen ziehen jährlich in die Hauptstadt an der Spree. 45.000 Zugezogene, die Berlin als ihre neue Heimat kennen und vielleicht lieben lernen. 45.000 Neuberliner – und eine davon bin ich.

Das ist der Beat der Generation Y

Bloß nicht zu früh festlegen, erst mal die Welt sehen, erst mal alles erleben, was man so erleben kann, nichts verpassen, auf keinen Fall verpassen. Lieber noch bereuen.

Es gibt da eine nicht sichtbare Liste, die es abzuhaken gilt, um später sagen zu können: Ja, alles richtiggemacht. Nach dem Abi ab ins Ausland, work & travel oder ein soziales Projekt unterstützen – Neuseeland oder Australien, Hauptsache weit weg. Direkt im Anschluss dann der Bachelor, bitte keine Zeit verplempern. Mindestens ein Auslandsemester muss drin sein, auf jeden Fall im englischsprachigen Raum. Der anschließende Master ist ein Muss, gerne in einer neuen Stadt, besser noch im Ausland. Das ist der Beat der Generation Y. Also meiner.

Generation-Y-Liste

So, da bin ich also angekommen auf Punkt x meiner unsichtbaren Generation-Y-Liste. Master in Berlin? Perfekt. Fällt gar nicht so leicht, die sieben Sachen zusammen zu packen, weg von Familie und Freunden, ab in die nächste WG, hinein in die pulsierende, fremde Hauptstadt. Neue Uni, neue Leute, neue Straßennamen, neue Ampelmännchen. Neu heißt erfrischend, neu heißt berauschend. Schon nach kurzer Zeit ist dieses Hochgefühl Dauerzustand, ich bin in Berlin – „the place to be“. Aber warum place to be? Weil man das so sagt? Weil alle coolen Events in Berlin stattfinden oder alle hippen Labels hier ihren Ursprung haben? Klischees. Zwar Klischees, aber diese haben ja bekanntlich ihren Ursprung in der Wahrheit. Im hiesigen Bundestag wird alles politsch Wichtige entschieden. Hier finden Events wie die Fashionweek und Hollywood-Premieren statt. Hier hat das göttliche Handtaschenlabel Liebeskind Berlin seinen Ursprung und hier kann man Größen wie Christoph Waltz oder Matthias Schweighöfer im Kiezcafé treffen – wie cool ist das bitte?! Doch das allein ist es nicht, was Berlin zum place to be macht. Vielmehr ist es die Atmosphäre, die Stimmung in der Stadt. Man spürt sie – die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Kulturen und Hintergründen spüren alle die gleiche Atmosphäre – eine erstrebenswerte Atmosphäre aus Freiheit und Toleranz, aus Impuls und Echo. Genau diese Atmosphäre muss es sein, mit der die Stadt so viele Neuankömmlinge in ihren Bann zieht.

Weil man hier alles sein kann

Von Theatern über Opern, Kinos, Museen und Lesebühnen – das kulturelle Angebot ist unübersichtlich wie überwältigend. Wedekinds Frühlingserwachen im Berliner Ensemble (check), Mozarts Zauberflöte in der Deutschen Oper (check) oder Adolph Menzel in der alten Nationalgalerie (check): Täglich kann man sich beinahe alles ansehen, was die Lücken des Schulunterrichts zu füllen vermag. Unzählige Cafés und Restaurants von shabby chic bis hin zu Retro, von der mittelalterlichen bis hin zur molekularen Küche, hier gibt es einfach alles.

Für die neue Vogue muss man nicht zwangsläufig jedes mal sein Erspartes opfern, die neuesten Trends, coole Stylingideen inklusive, gibt es hier auf der Straße zu sehen, sogar am Normalobeispiel.

Es scheint eine unausgesprochene Norm zu geben: Mach’ Du was Du willst, ich mache was ich will – erleben und erleben lassen.

Der Mann gegenüber in der U-Bahn trägt rote Stilettos zu seinem schlecht sitzenden Nadelstreifenanzug, na und? Die Dame neben mir liest unaufhörlich laut aus ihrem steinalten Witzebuch vor, okay! Das heißt nicht, dass Berlin die Stadt des Seltsamen ist, aber sie ist die Stadt, in der auch Seltsames akzeptiert wird. Man kann eben machen was man will. Nur mit dem entscheidenden Zusatz, dass man hier auch alles machen kann.

Ich genieße es trotzdem das dicke B, und zwar in vollen Zügen

Die Vorstellung einer abzuhakenden Liste ist erst einmal nicht gerade schön, geradezu bemitleidenswert. Es hört sich an wie ein innerer Zwang, dem man nur mit schwerstem Widerwillen nachzukommen versucht. Statisch eins nach dem anderen abhaken, nichts genießen, nur abhaken. So ist es aber nicht, nicht für jeden. Auch wenn der Antrieb ein neues Häkchen ist, so ist jeder einzelne Punkt doch ein besonderer, der prägt und formt und an den man sich später gerne zurückerinnert. Was also ist so falsch an einem inneren Antrieb, der einen anspornt, alles auszukosten, was es auszukosten gibt? Die Antwort könnte sein: Falsch daran ist allein der Ursprung der Liste, sie ist nicht ausschließlich selbst entworfen sondern aus einer gewissen Erwartung heraus entstanden, nämlich aus den Erwartungen der anderen. Gegenargument? Habe keins. Aber ich genieße es trotzdem, das dicke B, mit all seinen Klischees, und zwar in vollen Zügen.

 

Bild: Steffen Geyer/flickr

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1 Kommentare

  1. Diese Stadt mit ihrem pulsierenden Takt ist wie Musik von Stockhausen oder Cage, scheinbar chaotisch, dennoch strukturiert, ergreifend, mitreißend und ja: berauschend. Alle Facetten moderner internationaler Kulturen und Subkulturen neben dem tradtionellen Berliner Lebensbrauch kumulieren zu einem Lebensgefühl, wie man es in nur wenigen Metropolen dieser Welt in ähnlicher Form wiederfinden kann.
    Die Faszination Berlin ergriff schon viele Generations Y, so auch einst mich als ich noch ein Teenager war.
    Mittlerweile in der Generation O angekommen, mit Lebensmittelpunkt und Wohnsitz auf dem Land zwischen Schafen, Rindern und Pferden, abgewandt von Mainstream und Großstadtleben, abends am Lagerfeuer sitzend und dem Plätschern des Bachlaufes lauschend, kreisen dennoch die Gedanken um die Verlockungen und Reize, die gerade Berlin zu bieten hat. Den Sinnesrausch dieser Stadt zu erleben und zu erfühlen ist immer wieder ein Hochgenuss, auch für den nur gelegentlichen Besucher. Berlin ist eben immer eine Reise wert!
    Saugt diese Atmosphäre auf wie ein Schwamm. Sie wird euch inspirieren und prägen. Besser geht´s nicht.

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