Gesellschaft
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Nie wieder Hähnchenschenkel

Warum Jöran Fliege zum Veganer wurde und wie er heute damit lebt

Jöran Fliege starrt auf seinen Computerbildschirm. Er liest von Hühnern, denen im Mastbetrieb die Schnäbel abgeschnitten werden. Und von männlichen Küken, die direkt nach dem Schlüpfen zerquetscht werden, weil man sie zum Eierlegen nicht gebrauchen kann. Dann schaut er sich das Video „Earthlings“ an. Er sieht, wie ein Straßenhund lebendig in einen Müllkipper geworfen wird. Und Kühe, die auf schmerzhafte Weise im Gesicht gebrandmarkt werden. 

Jöran muss die Stopptaste drücken. Er erträgt die Bilder nicht. Doch er zwingt sich weiter zu gucken, sich vor Augen zu führen, was wir alle wissen und doch nicht wahrhaben wollen: Was Menschen mit Tieren machen ist grausam. 

Kompletter Lebenswandel

Dieses Erlebnis liegt mittlerweile sieben Jahre zurück. Seitdem hat sich Jörans Leben komplett geändert. Früher aß er Hähnchenschenkel mit Ketchup, jetzt sitzt er in einem Asiarestaurant und bestellt sich Tofu mit süßsauerer Soße. Jöran ist Veganer, so wie rund 80.000 andere Menschen in Deutschland. Das bedeutet, dass er auf alle tierischen Produkte verzichtet. „Süßsauer-Soße ist eigentlich immer unbedenklich“, erklärt er, während er durch eine unauffällige Brille auf sein Essen schaut, „aber bei Curry muss man schon nachfragen, weil das viele Inder oder Chinesen mit Kuhmilch strecken.“ Deshalb kocht Jöran sein Mittagessen meistens selbst. „Ich glaube, als Veganer lernt man als allererstes, sein Mittag für vier Tage vorzukochen.“, sagt er und lacht.

Zum „vegan Leben“ gehört aber nicht nur der Verzicht auf Fleisch, Eier, Milch und Honig. Veganer verzichten auf tierische Produkte jeglicher Art. Das reicht von Möbeln über Kosmetik bis hin zu Medikamenten. Auch Jörans Kleidung ist vegan: Die modernen Sneaker an seinen Füßen sind aus einem synthetischen Lederimitat, an den Beinen trägt er eine Baumwolljeans, das T-Shirt ist ebenfalls aus Baumwolle.

Die Entscheidung zur Alkoholabstinenz

Jöran ist 27 Jahre alt, groß, blond und stark tätowiert. Er selbst sieht sich als Straight Edger. Die Bezeichnung leitet sich von einem Lied der Punkband Minor Thread ab, in dem der Sänger von seinem drogenfreien Leben singt. Die Bewegung entwickelte sich in den 80er Jahren in den USA. Ihre Mitglieder verweigern sich Alkohol und Drogen, so auch Jöran. Die Entscheidung zur Alkoholabstinenz fällte er gleichzeitig mit dem „Vegan werden“. Er wollte sein Leben ändern. Nicht mehr jedes Wochenende besoffen sein, sondern bewusste Entscheidungen treffen: „Irgendwann ist man so gewöhnt daran Alkohol zu trinken und Fleisch zu essen. Man hinterfragt gar nicht mehr, was das eigentlich bedeutet, und das wollte ich eben nicht mehr und ich wollte auch nicht mehr auf Kosten anderer Leben.“

Die Umstellung in Jörans Leben war radikal. Von einem Tag auf den anderen trank Jöran keinen Tropfen Alkohol mehr, aß kein Fleisch mehr und verbrauchte an tierischen Produkten nur noch das, was er zuhause hatte. „Ich habe noch den Käse aufgegessen und meine Daunendecke habe ich natürlich auch nicht gleich weggeschmissen, aber ich habe mir diese Sachen von da an nicht mehr neu gekauft.“

Und was meint Mutti?

Der Anfang war nicht leicht. Als Jöran seinen Eltern von seiner Entscheidung erzählte, vegan zu leben, waren diese alles andere als begeistert. „Meine Mutter hat schon deutlich gezeigt, dass das nicht das ist, was sie sich vorstellt.“, erzählt Jöran mit einem breiten Grinsen, „aber was sollte sie machen? Ich habe sie ja vor vollendete Tatsachen gestellt!“

Auf zum Stammtisch!

Für die moralische Unterstützung schloss sich Jöran einem veganen Stammtisch an: Einmal im Monat traf sich eine Gruppe Veganer im Yellow Sunshine – einem vegetarischen Bio-Burgerrestaurant am Görlitzer Bahnhof, in dem man auch vegan essen kann. Die Gruppe nannte sich Tierrechtsbündnis Berlin-Vegan. Jöran gestaltete extra eine eigene Webseite, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Gemeinsam mit den neuen Freunden organisierte er Pro-Vegan-Demonstrationen und stellte auf der Webseite Informationen zum veganen Leben zusammen.

Inzwischen ist das Tierrechtsbündnis in Berlin etabliert. Der Stammtisch findet sogar zweimal im Monat statt und jedesmal kommen neue Leute hinzu. Jöran ist für die Organisation verantwortlich. Er versucht die Treffen immer in unterschiedlichen Restaurants stattfinden zu lassen, um die Vielfalt der veganen Lokalitäten, die es inzwischen in Berlin gibt, vorzustellen. Mal gehen sie ins Café VUX in Neukölln, mal ins Viasko in Kreuzberg, mal ins Vaust in Charlottenburg. Der Ablauf ist immer gleich: Meistens bilden sich schnell Grüppchen von Leuten, die schonmal da waren und Leuten die neu hinzugekommen sind. Und dann werden Fragen gestellt: „Was kann ich kaufen? Was ist problematisch? Und wie ernähre ich mich ausgewogen?“

Die Sache mit dem Kochen

Mit der Ernährung hatte auch Jöran am Anfang Probleme, denn vom veganen Kochen hatte er bis dahin gar keine Ahnung. Von zuhause her kannte er nur die traditionelle deutsche Küche: „Mein Vater hat früher immer sowas wie Senfei und Klopse gekocht und bei mir war das dann ähnlich.“, erzählt er. Als Veganer ging das natürlich nicht mehr. Also gab es bei Jöran in der Anfangsphase meistens Nudeln mit Ketchup. Bis er auch andere vegane Gerichte drauf hatte. Im Internet informierte er sich, was er essen muss, um weitestgehend auf Nahrungsergänzungsmittel verzichten zu können. „Wenn man sich nicht nur von Nudeln und Pizza ernährt, sondern auch viel Gemüse isst, dann kommt der Körper eigentlich ganz gut damit klar“, erklärt er.

Im Supermarkt lauern Verführungen

Es ist Mittwoch-Nachmittag und Jöran schlendert mit einem roten Einkaufskorb in der Hand durch die Gemüse-Abteilung eines Rewe-Supermarktes. Er packt Bananen, Pilze, zwei Birnen und eine Zucchini ein. Bei den Pastinaken bleibt er stehen: „Früher hätte ich gar nicht gewusst, was das ist. Jetzt weiß ich, dass man damit super Gerichte kochen kann.“, sagt er und greift nach einem der beigen Wurzelgewächse.

Nach und nach wandern immer mehr vegane Produkte in den Einkaufskorb: Hafermilch, Trockenfrüchte und eine Nussmischung. Auch ein Tetrapack Orangensaft nimmt er mit, doch gleichzeitig warnt er: „Säfte und Weine werden häufig durch Gelatine geklärt.“ – es ist also nicht alles vegan, was so aussieht.

Schließlich ist er bei dem Regal mit den Süßigkeiten angekommen. „Ich muss zugeben, wenn man gerne Süßes mag, dann ist es schon recht schwer, etwas veganes zu finden.“, sagt er, während seine Augen die aufgereihten Schokoladentafeln abscannen. Helle Schokolade geht nicht, weil sie Milchpulver enthält, dunkle ist ihm zu herb. Bereut hat Jöran seine Entscheidung, Veganer zu werden, trotzdem nie. „Manchmal wäre es vielleicht einfacher, nicht vegan zu sein“, gibt er zu, „aber man hat ja keinen Zwang, man will‘s ja!“ Und so verzichtet er auf die süßen Vollmilch-Verführungen, die aus dem Regal winken. Und endlich findet er sogar etwas, was seinem Geschmack und seinem Gewissen bekommt: „Ha, die habe ich gesucht!“, freut er sich – Zartbitterschokolade mit Marzipan!

Foto: © medienkollektiv manfred

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Kategorie: Gesellschaft

Claudia Malangré

Aufgewachsen bin ich in Uelzen. Nach dem Abitur machte ich ein FSJ Kultur bei oldenburg eins und begann an der FU Berlin Islamwissenschaft zu studieren. In den Semesterferien war ich zweimal in Ägypten und absolvierte dort fachspezifische Praktika. Außerdem arbeitete ich neben dem Studium bei ALEX TV. Seit Oktober 2012 studiere ich Kulturjournalismus an der UdK Berlin.

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