Gesellschaft
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Erst Hose runter. Dann “Vater unser”.

Früher waren Flashmobs reiner Spaß. Mittlerweile steckt viel mehr dahinter.

Hose runter! Auf einen Schlag stehen hunderte Menschen in Unterhose da, mitten in den Londoner U-Bahnen. Die Hose schlackert in den Kniekehlen. Manche ziehen sie ganz aus. Nebenstehende Menschen reißen entsetzt die Münder auf. Die Halbnackten tun so, als ob nichts wäre. Sie starren weiterhin gelangweilt ins Nichts, lesen ihre Bücher oder tippen auf ihren Handys herum. In Unterhose. Manche auch in String und Strapsen. Ein Haufen Perverser. Das denken sicher viele der Bahnfahrer. Nur die Eingeweihten wissen, das ist nicht mehr als ein Flashmob.

Den Begriff kennt mittlerweile jeder. Bei einem Flashmob verabreden sich Menschenmengen via Twitter, Sms und Facebook zu einer spontanen Aktion in der Öffentlichkeit. Da tanzen auf einmal Tausende zu Michael Jackson´s „Thriller“, Millionen Federn fliegen bei einer öffentlichen Kissenschlacht oder Kunden bestellen 10.300 Burger auf einmal bei Mc Donalds. Betroffene sehen sich oft als Opfer. So wie die nichtsahnenden Pendler in der U-Bahn, die Straßenreiniger nach der Kissenschlacht oder die Mc Donalds-Mitarbeiter. Die sollen einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen sein. Dagegen ist die Aktion für die Teilnehmer nur ein Spaß. Meistens.

Es geht bis zur Regime-Kritik

Der erste Flashmob der Welt fand im Jahr 2003 in New York statt. Hunderte Menschen versammelten sich im Kaufhaus „Macy´s“ vor einem Teppich. Den verdutzten Verkäufern erklärten sie, sie wollten einen „Liebesteppich“ für ihre Kommune kaufen. Zu der Aktion hatte der Chefredakteur des „Harper´s Magazine“, Bill Wasik, aufgerufen. In Interviews erzählte er später, er hätte „hippe Leute“ versammeln wollen, die gemeinsam danach strebten, „ein Teil der nächsten großen Sache“ zu werden. Ganz egal, wie sinnfrei diese sei. Es funktionierte.

Lange Zeit waren Flashmobs mehr oder weniger sinnfrei. Menschen wollten damit vor allem zeigen, wie verrückt sie sind, aus dem öden Alltag ausbrechen und Spaß haben. Das Faszinierende daran: Innerhalb eines Flashmobs kann jeder für ein paar Minuten zum kleinen Teil einer großen Bewegung werden. Personen, die sich vorher noch nie gesehen haben, werden zu Verbündeten. Medienwissenschaftler schätzen jedoch, dass reine Spaß-Flashmobs weniger werden. Der Überraschungseffekt sei langsam verpufft. Immer öfter haben Flashmobs einen ernsten Hintergrund. In Ägypten sind sie eine Form der Demonstration. Ägyptische Aktivisten rufen damit zum Frieden auf, zu einem friedlichen Regime. Bis tödliche Schüsse sie daran hindern. Auch in Weißrussland versammelten sich Menschenmengen schon mehrmals auf öffentlichen Plätzen. Die Teilnehmer zogen die Regierungszeitung aus ihren Taschen und zerknüllten sie. Dann warfen sie die Zeitung in einen Mülleimer und gingen weiter, als ob nichts geschehen wäre. Ein Zeichen des stummen Protests gegen die autoritäre Berichterstattung.

Vom Flashmob zum Smart Mob

Auch in Deutschland werden Flashmobs zunehmend zu sogenannten „Smart mobs“, die politisch motiviert sind. Im Tarifkampf 2009 legte die Gewerkschaft ver.di mit Hilfe eines Smart mobs Supermärkte lahm. Teilnehmer füllten ihre Einkaufswagen mit hunderten Artikeln, die nur wenige Cents kosteten. Dadurch entstanden kaum zu bewältigende Schlangen an den Supermarktkassen. Das Bundesarbeitsgericht billigte diesen Mob sogar als Arbeitskampfmaßnahme.

Mittlerweile nutzen Menschenmassen den Smart mob für fast alles. Sei es um auf den Klimawandel, Tierquälerei oder andere Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Im Jahr 2011 fand in Berlin ein Mob gegen das Blutvergießen in Syrien statt. Hunderte Menschen riefen „Keine Gewalt!“ in Megafone. Dabei hielten sie Blumen in die Höhe und trugen scheinbar blutbefleckte T-Shirts. Im Januar diesen Jahres wurde das „Vater unser“ zum Flash, beziehungsweise Smart mob. Tausende Gläubige verabredeten sich zum Beten in Deutschland und Österreich. Sie wollten damit auf die Christenverfolgung hinweisen.

Viele Kritiker hielten Flashmobs von Anfang an für Blödsinn. Die Wandlung des Flashmobs zeigt, wie aus Blödsinn etwas Ernsthaftes werden kann. Ob die Flashmobs dabei immer etwas bewegen können, ist fraglich. Definitiv aber bewirken sie Aufmerksamkeit für bestimmte Themen. Manchmal steht aber auch immer noch der Spaß im Vordergrund. Der No-pants-Flashmob in London findet übrigens jedes Jahr statt. Wer mitmachen will: Im Januar 2015 werden das nächste Mal wieder öffentlich die Hosen runtergelassen.

Foto:Flickr.com

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Kategorie: Gesellschaft

Aufgewachsen bin ich in der Nähe von Hildesheim in einem Dorf, in dem die Welt noch in Ordnung ist. Offen für andere Kulturen habe ich mein Studium der Medien und Kommunikation im Freistaat Bayern (Augsburg) und dann ein Semester in den Vereinigten Staaten von Amerika (Washington DC) verbracht. Währenddessen Praktika bei allem, was mir Spaß macht: in Print-, Fernseh-, Online- Redaktionen und bei einer Produktionsfirma. Meinen Berufswünschen aus einem Freundschaftsbuch der dritten Klasse kann ich nur zustimmen. Weise vorausschauend hatte ich auch damals schon einen Plan C für eventuelle Medienkrisen: „Schriftstellerin, Reporterin oder Schweinezüchterin.“

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