Gesellschaft
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Das Denken ist schuld

Mit der Kälte kommt für viele Menschen die Melancholie. Aber was hat es auf sich mit der dunklen Seite des Lebens. Und was können wir von der Traurigkeit lernen?

Das große Minuszeichen im Leben scheint noch größer zu sein als sonst. Mit den Herbststürmen gewinnen Schwermut und Traurigkeit die Oberhand. Es ist dabei ein sprachlicher Treppenwitz, dass die saisonal-affektive Störung, landläufig als Winterdepression bekannt, mit SAD abgekürzt wird. In Deutschland schätzt man, dass rund 800.000 Menschen jedes Jahr davon betroffen sind. Je weiter nördlich der Wohnort und je dunkler der Winter, desto mehr Menschen kennen diese winterliche Melancholie.

Vor einiger Zeit verfasste George Steiner in seinem Buch „Warum denken traurig macht“ zehn Kadenzen über die Schwermut. Über die große Traurigkeit, die uns alle einmal befällt, die aber laut Steiner noch viel tiefer sitzt, als ein bloßes saisonales Unwohlsein. Sie ist immer da. Sie ist so etwas wie die Grammatik unseres Lebens. „Wir sind gleichsam ,traurig‘ geboren“, so Steiner. Es ist eine ständige Hintergrundstrahlung, so wie die kosmische Strahlung des Urknalls, der wir alle immer noch ausgesetzt sind.

Unendliche Pirouetten

Das ständige, schmerzende Rauschen, es kommt aus dem Denken heraus. Wir spüren es, wenn wir uns wieder und wieder im Kreis drehen. Wenn wir hilflos sind und die Welt der Krisen uns niederschmettert.

Das Denken ist also schuld. Die Unendlichkeit der Pirouetten, die wir drehen, um uns selbst etwas vorzumachen. Steiner hat versucht, mit seinen zehn Gründen für die Traurigkeit klare Furchen durch dieses Dickicht zu schlagen. Ganz gelungen ist ihm das nicht. Es findet sich schlicht keine Allegorie, kein Bild, das passen will.

Der Portugiese Fernando Pessoa, ein großer Trauriger der modernen Literatur, hat seine Weltverzweiflung schon vor 100 Jahren so beschrieben: „Ein physischer Ekel vor dem ganzen Leben stieg mit meinem Erwachen auf. Ein Entsetzen, leben zu müssen, erhob sich mit mir aus dem Bett. Alles kam mir hohl vor, und ich hatte den kühlen Eindruck, dass es für kein Problem auf der Welt eine Lösung gibt.“

Der Künstler, in diesem Fall der Schriftsteller, lebt also den „[…] Mythos vom Heroen, der über Leid und Enttäuschung sich dennoch bewahrt und verwirklicht“, so der Historiker Thomas Nipperdey. Er hat eine „[…] skeptische, pessimistische Einfärbung der Welt- und Lebenserfahrung“.

Wir brauchen die Krise

Aber was genau fangen wir damit nun an? Mit dem ganzen Weltschmerz und der Verzweiflung? Werden wir, um das zu beantworten, etwas konkreter und bedienen uns eines Beispiels des Pädagogen Jürgen Henningsen.

Im Jahr 1841 leidet der kleine Henry Adams, seines Zeichens Enkel des sechsten US-Präsidenten und späterer Historiker, an Scharlach. Er ist vier Jahre alt und die Krankheit beeinflusst seine körperliche und seelische Entwicklung stark. Sie macht ihn zu einem ernsten und nachdenklichen jungen Mann. Später nimmt er diese Phase seines Lebens als wegweisend für seine Persönlichkeitsentwicklung wahr.

Henningsen stellt dazu fest: „Ein Mensch leidet, aber dieses Leiden muss sich nicht notwendig nur negativ auswirken. […] Niemand ist gebildet, der nicht auch die Schattenseiten des Lebens und das ihm widrig Widerfahrene als notwendigen Bestandteil seines Lebens (und damit seiner Bildung) weiß.“ Das mag ketzerisch klingen, ist aber keineswegs als Gütesiegel für jede Art von Unglück gedacht. „Unglück kann bildend wirken – aber wir wissen nie im voraus, ob das so sein wird.“

Bildung besteht demnach (auch) aus Schmerz. Dieser führt zur Ausgestaltung der Persönlichkeit. Allerdings nur, wenn das Leid verinnerlicht und reflektiert wird. Wir müssen es sozusagen erst bearbeiten. „Bildend ist, was [das] Individuum zu einem Bestandteil seiner selbst macht“, sagt Henningsen. „Wir dürfen vermuten, dass in der Tat die Krise notwendig zum Wesen des menschlichen Lebens gehört und dass die höhere Stufe der Reife grundsätzlich nur im Durchgang durch die Krise erreicht werden kann.“

Ich liebe den Scheißeregen

Das Gute an der Traurigkeit und am Unheil ist also deren Überwindung. Im Falle George Steiners wäre es die Auflösung der ewigen Denkspirale. Dafür, so Steiner selbst, ist die Musik die beste Disziplin. Sie transportiert Gefühle ohne das unzureichende Vehikel der Sprache. Und so wie die Stringtheorie davon ausgeht, dass das Innerste unserer Welt aus Schwingungen besteht, kann auch die Musik unsere tiefsten Gefühle  beinahe unverfälscht wiedergeben.

Die Rettung liegt also wie so oft in der Kunst. Sie schafft das Große und das Neue. Sie lässt uns, uns selbst erkennen und lehrt uns, aus dem Unglück zu lernen. Allem voran die Musik verleiht uns die Rüstung eines selbstbewussten, humorvollen Kämpfers. Aber wir müssen der Traurigkeit nicht nur entkommen. Wir müssen auch aus ihr schöpfen. Mit Witz und stolzem Trotz. Denn vielleicht ist es am Ende dadurch wenigstens Kunst und wir lernen, das nächste Mal besser zu scheitern.

„Ich liebe es im Jammertal umherzuirren, ich schätze es, im Scheißeregen zu steh’n,“ singt Peter Licht. „Ich liebe soziale Unterschiede. Ich liebe es wenn man mir sagt, dass was nicht geht. Nur charmant muss es sein. Und subtil muss es sein. Und an Witz darf es nicht fehlen. Und sexy soll es sein. Und Esprit muss es haben. Und Heiterkeit.“

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