Gesellschaft
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Am Wannsee

Ein Haltestellenporträt der anderen Sorte – eine Kurzgeschichte

In der Ferne ratterten die Bahnen an der Haltestelle vorbei, die blecherne Stimme in der S-Bahn plärrte im 10-Minutentakt „Nächste Haltestelle: Wannsee. Weiterfahrt nach Ahrensfelde auf dem Gleis gegenüber.“ Der Alltagslärm hallte ihm in den Ohren, dabei hatte er ihn längst hinter sich gelassen. Er schloss seine Augen und versuchte, alles auszublenden. Als er sie wieder öffnete, starrte er hinaus, geradeaus auf die Weiten des Wannsees. Das Wasser war still, ganz so, als ob nichts gewesen wäre.

Dies war ihr Lieblingsort gewesen. Sie hatten hier gesessen, genau auf dieser Bank, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Aber auch danach hatte dieser Ort sie immer wieder an sich gezogen, wie ein Magnet. Sie waren Mal um Mal hergekommen, hatten auf den abgenutzten Holzlatten der Bank gesessen, gemeinsam auf den See gestarrt.

Alles, woran er nun noch denken konnte, war, wie man sie hier vor sechs Tagen gefunden hatte. Ohne es zu wollen, malte seine Fantasie die Bilder, die er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken. „Familie findet Frauenleiche beim Segeln am Wannsee“ hatte es in der Zeitung gehießen. Ihr Körper musste dem Boot der nichts ahnenden Familie auf der Wasseroberfläche entgegen getrieben sein, sie hatten sich sicher gewundert, was dort vor ihnen schwamm. In seiner Vorstellung schaute ihr Hinterkopf wie eine Boje halb aus dem Wasser heraus, von den leichten Wellen auf- und abwippend. Auf und ab, auf und ab.

Ihr bleiches, aufgeschwämmtes Gesicht geisterte seitdem vor seinen Augen rum, ihre Augen wie im Schlaf geschlossen, ihre Haare nass und strähnig. Auf der hellen Haut ihres Halses die blauen Flecken eines zu festen Griffs, der ihr das Leben gekostet hatte.

Plötzlich fühlte er, wie sich seine Hand unwillkürlich zu einer Faust ballte, wie seine Fingernägel sich in seine Handflächen vergruben. Er versucht dieses Gefühl, das plötzlich wieder in ihm brodelte, loszuwerden. Er wollte durchatmen, er wollte sich entspannen, die Wut vergessen. Abermals schloss er seine Augen, doch seine Lider flatterten und der Kreis der Gedanken ließ sich nicht stoppen. Seine Gedanken führten ihn immer wieder zu jener einen Nacht zurück.

Sie hatte es doch verdient gehabt. Es waren seine Hände gewesen, die in der besagten Nacht vor sieben Tagen ihren Hals umschlossen hatten und nicht mehr loslassen wollten. Seine Hände, die immer fester und fester zudrückten. Seine Hände, die sie umgebracht hatten. Bei Nacht hatte er ihren leblosen Körper in seinem Kofferraum transportiert, niemand hatte ihn gesehen. Den schweren Körper hatte er bis zum Ufer durch das Laub gezogen, bis ihr Nachthemd voll Dreck und ihre Haare mit Laub verknotet waren. Mit dem Ruderboot auf den See, wo er ihren Körper über den Bootrand gerollt und versenkt hatte.

Da war keine Schuld und keine Reue, nicht ein kleines Fitzelchen in seiner Seele, das wünschte, er hätte anders gehandelt. Das, was sie in der Vergangenheit gehabt hatten, gab es in der Gegenwart nicht mehr. Eine Zukunft würden sie nun nie haben.

Foto: Antony Zacharias/flickr.com

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