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Mama macht Mathe

Bildung selbst gestalten. Foto: Johann Dréo, CC-BY-SA license

Streitthema Homeschooling: Immer mehr Eltern würden ihre Kinder gern zu Hause unterrichten. In anderen Ländern ist das längst erlaubt

Bildung selbst gestalten

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Neugier mischt sich mit Frohsinn und ermöglicht spielerisches Lernen. Und doch kommt Bildung meist im Kontext mit Schule und ihren Bauten, Lehrkräften und Plänen vor. Sie wird in Formen und Reformen gepresst, in dafür vorgesehene Institutionen. Kinder selbstverantwortlich bestimmen zu lassen, was wann wie gelernt wird, ist in klassischen Regelschulen beinahe undenkbar. An diesen Punkten greift das Konzept des Homeschoolings oder daraus abgeleitete freie Lernformen, bei dem Kinder zu Hause unterrichtet werden. Was in Deutschland seit 1939 mit Einführung des Reichsschulpflichtgesetzes illegal ist und mit Geldstrafen bis hin zum Sorgerechtsentzug sanktioniert wird, ist in Norwegen oder den USA längst keine Seltenheit mehr.

Auch Norbert Blüm, langjähriger Bundesminister für Arbeit, kritisierte das bestehende System in seiner im März 2012 in der „Zeit“ erschienenen Streitschrift „Freiheit!“. Darin äußerte er sich gegen das staatliche Bildungsmonopol. Er betrachtete Eltern, die ihre Kinder verantwortungsvoll zu Hause unterrichten, als gesunde Antwort auf ein anmaßendes Schulsystem. „Heute beobachte ich die totale, widerrechtliche Aneignung der Kinder durch die Schule“. Allein dadurch, dass Schule feste Zeitpläne hat, denen man folgen muss, übt sie Kontrolle aus. Innerhalb dieses Rahmens gibt es wenig individuelle Flexibilität. Man wird gebildet, wie vorgeschrieben, nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem wird gefordert, dass Kinder in diesem Rahmen relativ gleiche Leistungen erzielen. Dafür müsste es aber gleiche Talente, gleiche Lehrkräfte, mit gleichen Vermittlungs- und Erklärungstalenten und mit gleicher Zeit für alle geben.

Diese Probleme umgeht Homeschooling durch Anpassung an das individuelle Kind. Das Konzept bedeutet vor allem Eigenverantwortung: Nicht in dem Sinne, Kindern komplett die Zügel in die Hand zu geben. Eltern fungieren als Vermittler, sie geben den Stoff weiter, fragen ab, probieren komplett freie Lernweisen oder strukturierte Methoden aus. Begabung und Interesse werden gefördert, aber keine Materie vernachlässigt. Es ist nicht wichtig, in einem Zimmer an einem Tisch zu sitzen: Kinder lernen im Liegen, Ausprobieren, Singen, Rezitieren und an der frischen Luft. Es gilt, die gleichen (und bessere) Leistungen zu erzielen, welche Schule und Staat – und auch die Gesellschaft – verlangen. Das WIE ist egal. Computerprogramme, Spiele, Sachbücher, Filme, Konzerte: Alles ist gestattet. Drei Tage die Woche nur Mathematik, abends eine Stunde Geographie, die restlichen Tage Sprachen, Kunst oder Geschichte: möglich! Durch Leistungsnachweise an staatlichen Schulen ist der Wissenstand jederzeit prüfbar.

Doch Homeschooling kennt viele Gegner in der Öffentlichkeit und den Medien. Kritische Stimmen befürchten Sektismus und absolute Kontrolle der Eltern über ihre Kinder. Die im Dezember 2012 in Berlin stattfindende GHEC (Global Home Education Conference), wurde von Mitgliedern des Bundesverbandes Natürlich Lernen! kritisiert, weil das Ziel, Kindern eine individuelle Bildung zu ermöglichen, aus dem Fokus zu geraten schien. Die Aufmerksamkeit des Vereines läge eher darauf, den Elternmehr Macht über ihre Kinder einzuräumen.

Um nur einige Vorurteile aufzuführen: Kinder, die zuhause unterrichtet werden, könnten keine Sozialkompetenzen oder Wettbewerbsfähigkeitenentwickeln, würden isoliert aufwachsen und keine Realitätsnähe haben, so die Kritiker. Kinder brauchen Spielgefährten, Bewegung und Kontexte, um die Welt ganz zu erfassen. Doch die Argumente bezüglich mangelnder Wettbewerbsfähigkeit und fehlender Sozialkompetenzen lassen sich entschärfen. Ein Kind, das zu Hause unterrichtet wird, will ebenso gute Leistungen erzielen und Abschlüsse machen wie eingeschulte Kinder. Außerdem sind die meisten Kinder in Vereinen und AGs eingeschrieben, gehen regelmäßig auf Ausflüge, treffen sich mit Gleichaltrigen und besuchen Veranstaltungen, die ihre soziale Entwicklung fördern. Jeder Homeschooler nimmt die Verantwortung für ein ausgewogenes Umfeld auf sich und versucht bestmöglich, die Bedürfnisse des Kindes abzudecken. Und: Nicht jeder kommt für Homeschooling in Frage. Statistisch gesehen sind es meist Eltern mit Hochschulabschlüssen, die sich dafür entscheiden, die also das Wissen und die Reife haben. Es sind Eltern von Kindern mit Lernschwächen oder Eltern von unterforderten, überdurchschnittlich begabten Kindern. In Schulen ist eine individuelle Betreuung ein aufgrund des Personalmangels und der Klassengrößen oft unmögliches Unterfangen. Die Kinder werden im schlechtesten Fall durch ein System geschleust, das von Zeitabfolgen bestimmt wird, in denen Leistungen gebracht werden müssen. Das Ergebnis: Einige Kinder verlieren den Anschluss und das Interesse am Lernen, werden in Schubladen gesteckt, auf denen „Realschule“, „Gymnasium“ oder „Hauptschule“ steht.

Eltern, die eine solche Entscheidung treffen, sind Teil einer wachsenden Grassroot-Bewegung. Der Bundesverband Natürlich Lernen! zum Beispiel ist ein Zusammenschluss derer, die sich für selbstbestimmtes Lernen und einen respektvollen Umgang miteinander einsetzen, um sich gegenseitig zu unterstützen und die Möglichkeit des freien Lernens bekannter zu machen. Er unterstützt Kinder und Eltern durch Informationen und Vernetzung, organisiert Treffen und verweist auf Lerngruppen oder Familien, die den Schritt zur Unabhängigkeit gewagt haben. Eine ständige Aufgabe des Vereins ist es, Familien bei ihren Problemen mit Behörden zur Seite zu stehen, so dass Vereinsmitglieder bei Gesprächen mit den Behörden und zu Gerichtsverfahren mitgehen, erläutert Karen Kern, Leiterin des deutschsprachigen Clonlara-Programmes. Es ist eines der vielen Programme, welche der Unterstützung dienen, und eines der bekanntesten auf deutscher Ebene. Bis in die zwölfte Jahrgangsstufe werden Kinder begleitet und erstellen mit einem persönlichen Berater Bildungspläne, anhand derer Lernziele und Fächer festgelegt werden. Clonlara ist zwar kostenpflichtig, ermöglicht aber eine maßgeschneiderte Bildung, die auf Schwächen und Stärken gleichermaßen eingeht. Kredits müssen erbracht werden und doch alles in einem freien Rahmen. Das Wichtige beim Unterricht zuhause sei ohne Frage, dass das Kind samt Bedürfnissen und Potenzial im Mittelpunkt steht.

Andere Formen der alternativen Bildung sind demokratische Schulen, meist in freier Trägerschaft. Auf Abschlüsse wird hingearbeitet, aber wie und mit wem, das ist den Kindern überlassen, die ihre Lehrpläne selbst bestimmen. Jeder Schüler hat eine eigene Stimme, mit der er in wöchentlichen Sitzungen Rat hält und bei der Schulgestaltung mitwirken kann.

Danach richtet sich auch die 2010 gegründete Freie Demokratische Schule X in Berlin-Heiligensee. Diese besuchten der 18-jährige Luca und die 16-jährige Winona McKinnon. Beide wechselten mehrmals aufgrund von Umzügen die Schule Ob Walddorfschule, Realschule oder Gymnasium: Richtig glücklich waren sie auf keiner. Überall gab es Machtkämpfe zwischen den Lehrern, Platzmangel, Über- und Unterforderung, erzählt Petra McKinnon, die Mutter der beiden. Nach einem Infotag der Freien Demokratischen Schule, fragte sie beide Kinder, ob sie die Schule nicht ausprobieren wollten. Es war ein Versuch wert, meint sie, auch wenn es am Ende fürbeide nicht der richtige Weg war. Winona hatte Anschlussschwierigkeiten, da es aufgrund der erst jungen Gründung der Schule keine Gleichaltrigen gab. Sie wechselte bald auf die praxisorientierte Robert-Jungk Oberschule. Winona hält die demokratische Schule dennoch für eine gute Alternative: „Die Abstimmsitzungen und Justizversammlung funktionieren sehr gut, das gesamte Konzept passt. Es ist ein faires System.“ Die aktuelle Schule findet sie nicht besonders herausfordernd. Sie ist ein lebensfrohes Mädchen, zu dem der Schwermut nicht passen will. Ihre Enttäuschung scheint stellvertretend für diejenigen zu stehen, die sich durch die Schuljahre quälen. Ihr älterer Bruder Luca kam besser mit der Freiheit zurecht. Seine Mutter meinte, er lernte von allein, vor allem das, was ihm Spaß machte. Er selbst sagt: “Ich wünsche mir einen Abschluss zu machen, habe aber immer weniger Motivation und sehe in der Schule keine Lösung.“ Er rappt und schreibt Geschichten. Potenzial ist vorhanden, nur scheint es, als wäre es in den Schulen nie richtig entdeckt oder gefördert worden.

Diese Beispiele machen deutlich, dass für manche Homeschooling oder ein alternativer Bildungsweg richtig sein mag, für andere kann er nicht oder nur bedingt funktionieren, wie sich bei den McKinnons herausstellte. Jedoch wird immer klarer, dass eine starre Bindung an Strukturen nicht immer die Lösung ist. „Das existente Schulsystem ist wie ein baufälliges Haus. Manchmal kann man es flicken, manchmal nicht. Man müsste alles abreißen und von Neuem aufbauen. Im Bestehenden etwas zu verändern ist sehr schwer“, sagt Petra McKinnon und spricht damit die Sorge vieler Eltern aus.

2010 wurde beim Bundestag eine Petition eingereicht, die Straffreiheit für Eltern fordert, die ihre Kinder zuhause unterrichten. Für Karen Kern ist eine Zukunft für deutsche Homeschooler nicht abwegig. “Wenn immer mehr Eltern und Kinder klar nein zu diesem System sagen, wird sich etwas ändern. Familien, die den Mut haben, ihre Kinder ohne Schule lernen zu lassen, sind diejenigen, die zeigen, dass es funktioniert – ganz normale Familien. Kinder, Nachbarn oder ehemalige Schulkameraden zeigen, dass sie gebildet sind und sich in der Gesellschaft gut zurechtfinden.“

Foto: Johann Dréo | CC

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Kategorie: Gesellschaft

Anna Lazarescu wuchs in Reutlingen auf. Mit ihrer Sprachaffinität und Wortliebe wusste sie damals nicht wohin. 2005 emigrierte sie mit Bruder und Vater nach Rumänien, wo anfangs mimetische Anpassung und Integrationsversuche scheiterten. Wurzeln schlug sie nach innen, denn seitdem ist ihr Leben am besten mit dem Bild eines gepackten Koffers zu vergleichen. Aus Orientierungslosigkeit begann sie Drehbuch und Filmkritik an der Universität für Film-und Theaterkunst „Ion Luca Caragiale“ in Bukarest zu studieren. Sie verfiel der neuen Grammatik und Rhetorik der 7. Kunst. Sie sammelte Erfahrungen in der Filmproduktion und machte auch redaktionelle Praktika. Klar blieb für sie: Schreiben ist für sie einer der Lebensinhalte, den sie zum Beruf machen will. Sie wünscht sich als Filmemacherin und Autorin, egal welcher Art, zu arbeiten. In Berlin angekommen, erhofft Anna sich durch den Kulturjournalismus-Master eine neue Perspektive, um über andere Formen des kreativen Schaffens zu erzählen.

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