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Jeder lernt in seinem Tempo

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Gemeinsames Lernen: Schüler der Löwenklasse stellen Marzipan her

In der Heinrich-Zille Grundschule besuchen Kinder mit und ohne Behinderung dieselbe Klasse

„Wer möchte diese Woche Lernpate für Hidircan sein?“ Sabine Koller-Hesse, die Klassenlehrerin der Löwenklasse, richtet sich wie jeden Montag mit dieser Frage an ihre Schüler. Schnell gehen einige Arme hoch, einen Moment später noch ein paar weitere, bis etwa zwei Drittel der Klasse  Bereitschaft anmelden. Aus den Reihen hört man, wie vereinzelt Schüler mit „ich, ich“-Rufen auf sich aufmerksam machen. Der schwermehrfachbehinderte Hidircan hat die freie Auswahl, von welchem seiner Mitschüler er diese Woche unterstützt werden möchte. „Jede Woche bekommt Hidircan Hilfe von zwei Lernpaten, die ihm im Unterricht helfen oder ihn unterstützen, mit dem Rollstuhl in den Fahrstuhl zu kommen. Natürlich läuft das alles freiwillig. Wie man sieht – Hidircan ist gut integriert“, sagt die Klassenlehrerin schmunzelnd.

Dass Schüler mit unterschiedlichem kulturellen und sozialen Hintergrund, mit und ohne Förderbedarf, zusammen lernen, hat an der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg eine lange Tradition. Schon seit 20 Jahren setzt man dort auf inklusives Lernen, 2010 wurde das Engagement der Schule mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schulen ausgezeichnet. Den Anteil der Schüler mit besonderem Förderbedarf schätzt Schulleiterin Inge Hirschmann auf zehn bis zwölf Prozent – zweifelsohne eine Herausforderung für das Kollegium, jedem Schüler gerecht zu werden.

Seit 2009 sind die Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonventionen für alle deutschen Bundesländer verpflichtend. Jedem Kind mit Behinderung wird damit das Recht zugesprochen, einen Platz an einer Regelschule zu bekommen, sofern seine Eltern dies wünschen. Dazu zählen nicht nur körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder, sondern beispielsweise auch Kinder mit emotional-sozialen Auffälligkeiten. Diese Gruppe macht zusammen mit den Schülern, die Schwierigkeiten auf den Gebieten „Lernen“ und „Sprache“ haben, etwa 70 Prozent der Fälle aus, die als besonders förderbedürftig eingestuft werden.

Nicht nur baulich müssen die Schulgebäude jetzt aufgerüstet werden, auch das Lehrerkollegium muss sich auf den Unterricht mit heterogenen Schülergruppen vorbereiten. „Wir haben den Vorteil, dass wir jahrelange Erfahrung mit unterschiedlichen Schülerschaften haben“, sagt Koller-Hesse. An anderen Schulen sei das teilweise schwieriger, sagt Inge Hirschmann aus ihrer Erfahrung als Vorsitzende des Grundschulverbandes. „Wir haben hohe Anforderungen an den individualisierten Unterricht, wie Lehrer mit einer heterogenen Kinderschar umgehen sollen, aber wir haben noch kein gutes Fortbildungsnetz“, so Hirschmann.

Viel ist in der Unterrichtsgestaltung der Löwenklasse nicht mehr von klassischen pädagogischen Methoden wie den über Jahrzehnte praktizierten Frontalunterricht wiederzufinden. Jedes Kind hat einen individuellen Wochenplan, der auf seinen Leistungsstand zugeschnitten ist. In seinem eigenen Tempo kann es in den  so genannten „Lernstraßen“ selbständig Aufgaben bearbeiten. Bei der Lösung können neben der Klassenlehrerin auch die Erzieherin, die Schulhelferin oder die Sonderpädagogin befragt werden, die der Klasse unterschiedlich viele Stunden in der Woche  zur Verfügung stehen. Die Heterogenität entsteht in der Löwenklasse nicht nur durch die Mischung von Schülern mit und ohne Förderbedarf, die Klasse wird zudem auch noch jahrgangsgemischt unterrichtet. Die 24 Schüler von Klasse 1-3 lernen zusammen. „Manchmal kommt man dann zwar mit den eigenen Aufgaben nicht weiter, aber es macht auch viel Spaß zu helfen“, sagt Martha, die bereits in Klassenstufe drei ist.

Zusammen mit der Erstklässlerin Elena formt sie gerade aus gemahlenen Mandeln mit Honig kleine Bällchen. Die Schüler dürfen heute in Gruppen Marzipan selbst herstellen. Während die einen schon an ihren Tischen die Bälle kneten, laufen andere durch den Raum, fünf Schüler drängen sich um eine Mahlmaschine und zerkleinern die Mandeln. Ein Schüler will sich an der Seite vorbei zum Waschbecken quetschen. Dabei reißt er Klanghölzer und ein Tamburin runter, die provisorisch auf einem Stuhl gelagert wurden. Laut scheppernd fallen sie zu Boden. Es herrscht allgemeine Unruhe im Raum.

Bei Lernaktivitäten dieser Art wird besonders deutlich: Im dem circa 55 Quadratmeter großen Klassenraum herrscht Platzmangel. An der hinteren Wand sind in Regalen Arbeitsmaterialien übereinander gestapelt. Drei Tischgruppen sind eng zusammen gestellt – diese müssen verschoben und umgeräumt werden, um Platz für den Arbeitsplatz rund um die Mahlmaschine zu schaffen. „Für die Kinder sind die Räume zu eng. Das Gefühl, die Kinder in ihrer Lautstärke und ihrer normalen, gesunden Bewegungsfreude permanent knechten zu müssen, macht mich als Lehrerin auch krank“, sagt Hirschmann.

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft hält in ihrem Musterraumprogramm für Grundschulen im Ganztagsbetrieb eine Raumgröße von 60-65 Quadratmetern für angemessen. Auch das ist der Grundschulverbands-Vorsitzenden Hirschmann zu wenig. “Ich möchte Klassenräume von mindestens 65-70 Quadratmetern. So kriegt man Ruhe in die Kinderschar, man kriegt vernünftige Sozialformen, Platz für Kreis-, Einzel-, und Partnerarbeit und Stauraum für Materialien – was beim individuellen Unterrichten wichtig ist.“ Zusätzlich wären Lernwerkstätten, Rückzugsräume zur Entspannung oder Elterncafés wünschenswert.

Auch Otto Seydel, Leiter des Instituts für Stadtentwicklung, setzt für den Weg zur inklusiven Schule eine Veränderung der Raumsituation voraus. In seinem Buch “Schulen planen und bauen. Grundlagen und Prozesse” schreibt er, dass gerade Schüler mit emotional-sozialen Störungen ein hohes Bewegungs- und Ruhebedürfnis hätten. „Dies muss zwingend bei der Festlegung der Flächen berücksichtigt werden, andernfalls ist mit erheblichen neuen Belastungen für alle Beteiligten zu rechnen“.

Aber dennoch, so meint Hirschmann, sei die wichtigste Voraussetzung für guten Unterricht ausreichend Personal und ein gut funktionierendes pädagogisches Team. „Ich glaube, als Lehrer können sie unter schlechten Bedingungen in Klassenräumen immer noch gute Ideen für den Unterricht entwickeln, wenn sie zu zweit sind“.

In der Löwenklasse verteilt Sabine Koller-Hesse Fragebögen zum Thema Mobbing. Gemeinsam erarbeiten die Schüler mündlich, was das Wort bedeutet. Dann wird die Gruppe aufgeteilt. Die Erstklässler benötigen noch Unterstützung beim Lesen und Schreiben, die anderen Schüler können den Fragebogen schon fast alleine ausfüllen. Für Nachfragen steht Sabine Koller-Hesse bereit. Den Erstklässlern hilft eine Erzieherin beim Ausfüllen. Elena hat zwar noch Probleme das Wort zu schreiben, weiß aber ganz genau, was sie auf die Frage „Gehst du gerne in die Schule?“ eintragen möchte: Ja.

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Kategorie: Gesellschaft

Steffi Sandkaulen ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Auch wenn sie manchmal mit akutem Großstadt-Overkill zu kämpfen hat, ist sie der Metropole bisher treu geblieben. Studiert hat sie Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaft in Potsdam und Roskilde. Journalistische Erfahrung konnte sie bisher durch Praktika und freie Mitarbeit bei Xenon TV, Radio Fritz, UFA und Tip Berlin sammeln. Ihr erster Dreh beim Fleischer hat ihr die Welt der Bilder schmackhaft gemacht. Berufswunsch ist folglich TV-Reporterin, am besten im Bereich Stadtkultur und Stadtleben.

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