Wo Ostberlin noch richtig schön kaputt ist
Umringt von sanierten Altbauten, Bioläden, Bars und Streetwear-Geschäften liegt ein magischer Ort, an dem Ost-Berlin noch so richtig schön kaputt ist. Die Modersohnbrücke in Friedrichshain überquert die Bahngleise, die den Ostkreuz-Neubau mit dem halb abgerissenen Bahnhof Warschauer Straße verbinden. Hier, zwischen Wagenburg, Hundespielplatz und Industriehöfen, verlaufen die Abflussrohre noch überirdisch und sehen jetzt im Winter, verziert mit zuckergussgleichen Schneehäubchen, besonders bezaubernd aus.
Zu dieser Jahreszeit sind es vor allem junge Mütter mit ihren dick eingepackten Söhnen, die die Modersohnbrücke bevölkern, denn Züge gucken kann man hier so gut wie nirgends sonst in Berlin. Schon von weitem hört man die Kleinen frohlocken: „Ein ICE! Eine S-Bahn!“ Und wenn sich die Züge dann wie sanfte Riesen unter der Brücke hindurch schieben, umweht sie ein Hauch von Erhabenheit, der auch die Mütter in ihren Bann zieht.
Im Sommer dagegen ist es mühsam, die Modersohnbrücke zu überqueren. Dann ist sie verstopft mit Wahlfriedrichshainern und Touristen, angelehnten Fixie-Bikes und leeren Sternburg- und Club-Mate-Flaschen. Letztere findet man auch im Winter noch, sie liegen auf dem Dach der Ruine, die hinter der Modersohnbrücke steht. Dieses Backsteinhaus mit den eingeworfenen Fenstern und dem vom Laub vieler vergangener Herbste morsch gewordenen Dach ist das wahre Juwel der Modersohnbrücke. Ein Stück wilder Osten, charmanter noch als jeder industrieromantische Sonnenuntergang über den Bahngleisen. Man sollte sich diese Ruine genau anschauen – wer weiß, wie lange sie noch kaputt bleiben darf.
Titelbild: 666ruffryder | cc