Gesellschaft
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TV statt Brot – Zu Psychologie und Entwicklungshilfe

Eure Armut kotzt uns an

… sagen zwei MIT-Ökonomen und wollen nichts Geringeres, als sie abzuschaffen.

Da haben die Armen, die mit weniger als einem Euro am Tag, also Moskitonetze, und hängen sie nicht übers Bett. Gibt ja auch einen hübschen Brautschleier. Sie haben WHO-gesponserte Impfungen, Dünger und Gesundheitszentren und nutzen das alles nicht. Sie können kaum was zu Essen kaufen und sparen auf einen Fernseher. Sie leihen sich bei Kredithaien Geld, um es auf ein Sparkonto einzuzahlen. Ist das nur dumm? Oder ist da irgendwas anderes, ein großes X, das der Schlüssel zur Abschaffung der Armut ist? Wie soll man es entschlüsseln? Einfach im Slum nachfragen? Im Tschad, in der Dominikanischen Republik, in Indien, Indonesien, China, Kenia, Taiwan, Tansania, Thailand, Kolumbien, Brasilien, Benin, Burkina Faso, Sri Lanka, Pakistan, Peru, Uganda und all den anderen Elendshorten bei Hungerleidern an die Tür klopfen, falls es eine gibt, und sagen: „Guten Tag, Sie haben da die Möglichkeit zu Düngen und damit viel mehr zu verdienen. Warum in Gottes Namen tun sie das nicht?“

Das haben die Autoren von Poor Economics gemacht und ein Buch geschrieben, wie es alle paar Jahre einmal vorkommt; von dem man glaubt, dass es komplexe Materie endlich begreift und längst überfällig war: Fünfzehn Jahre haben der Inder Abhijit Banerjee und die Französin Esther Duflo, Ökonomin des Jahres unter 40, eine der acht wichtigsten Jungökonomen und laut Time-Magazin eine der 100 einflussreichsten Personen weltweit, in 18 Ländern nachgesehen, wo es hakt. Ihr Schlüssel ist, dass keinen Schlüssel gibt, sondern eine Lösung für jedes Problem in der Wirklichkeit zu suchen ist, statt in ausgeleierten Theorien. So holen die MIT-Ökonomen, die das Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab gegründet haben, den Mann mit dem TV-Problem zu uns ins Wohnzimmer: Diesen Marokkaner mit 90 Cent am Tag, der hungert und sich und seiner Familie weniger zu Essen kauft, weil er einen Fernseher will. Wir sehen Schulkinder im Tschad, die keine Lust auf Mathe haben und damit ihre Zukunft in Armut besiegeln, weil sie keinen Abschluss machen und die gleichen schlecht bezahlten Jobs wie ihre Eltern haben werden. Das Lust-Unlust-Prinzip kennt man auch aus Deutschland und nur weil sie in Entwicklungsländern leben, sind Arme dort keine logisch-kühlen Androiden, die wählen, was nach Plan das Beste für sie ist. Bloß haben ihre Entscheidungen drastische Folgen: Essen sie schlecht, haben sie weniger Kraft zum Arbeiten und verdienen noch weniger. Können Kinder weniger essen, weil ihr Vater in einen Fernseher investiert, haben sie auch im Berufsleben schlechtere Chancen, denn mehr gutes Essen macht erwiesenermaßen schlauer und Bildung wirkt sich auf den späteren Job und die Einkünfte aus. Warum entscheiden sich die Armen in solchen Situationen falsch? Was würde ihr Leben verbessern und was hindert sie daran, das wahrzunehmen?

Es sind nicht nur Korruption und Pflichtverletzungen, die Entwicklungshilfe scheitern lassen, sondern auch Mentalität, Self-Fulfilling-Prophecies, Unterschätzung, Prokrastinierung, Aberglaube, Depression und Fehlinformation, im Buch heruntergebrochen auf die drei „Is“: Ideologie, Ignoranz und Trägheit (inertia). Ähnlich dem 2011 erschienenen More than good intensions von Dean Karlan und Jacob Appel, will Poor Economics diese Hürden abschaffen und führt dazu ökonomische Polemiken der Kontrahenten Jeffrey Sachs (für Hilfestellung) und William Easterly (für Selbstständigkeit), Erkenntnisse von Psychologen, Verhaltens- und Hirnforschern sowie Ergebnisse aus den sogenannten randomisierten kontrollierten Studien zusammen. „Against the lazy thinking“ entsteht psychologisch orientierte Mikro-Entwicklungshilfe: Der Marokkaner hat eine Entscheidung gegen die Langeweile getroffen, denn der zähen Ereignislosigkeit ohne Kinos, Promenaden und sogar Arbeit zu entkommen, sei „wichtiger als Essen“, erzählte er den Autoren. Ein Teil des umgerechnet einen Euros am Tag wird auch in Indien für Feiern zurückgelegt, selbst wenn das weniger Essen bedeutet. Ein Lösungsansatz hat also unbedingt Kultur, Prestige und Abwechslung zu bedenken; will Entwicklungshilfe Arme ernähren, muss sie sie als Menschen verstehen. Dann lässt sich etwa auch erklären weshalb Bauern sogar subventionierten Dünger nicht benutzen, obwohl er dauerhaft mehr Einkommen bringen würde: Es gibt weder feste Lieferzeiten noch Telefone, weshalb sie nie wissen,  ob das Mittel vorrätig ist. Weil es zu aufwendig ist, jeden Tag eine Stunde in den Laden und wieder zurück zu laufen, um nachzusehen, verzichten sie. Esther Duflo organisierte einen Dünger-Heim-Service und schon hatten die Bauern mehr Korn, damit mehr Geld für Saatgut und mehr Ernte im nächsten Jahr.

Aus dutzenden solcher Beispiele, in denen die Autoren vor Ort mit den Hungerleidern gesprochen haben, haben sie einen pragmatischen Anti-Armuts-Fünf-Punkte-Plan entwickelt: 1. Wissenslücken schließen: „Kein Sex vor der Ehe“ will niemand hören. Wenn den Leuten Unterhaltung fehlt, soll man Informationen in Talkshows und Seifenopern verpacken. 2. Richtige Entscheidungen so einfach wie möglich machen: Wird der Dünger geliefert, nutzen ihn die Bauern auch. 3. Regierungen sollen Märkte dabei unterstützen, Sparkonten und Versicherungen für Arme zu ermöglichen. Wer sich sicher fühlt investiert in die Zukunft. 4. Korruption und Pflichtverletzung im Kleinen angehen: Publik machen, wie viel Geld in Entwicklungshilfe geflossen ist, damit die Leute sehen, wie viel davon in Schulen und Krankenhäusern ankommt. Stempel-Uhren einführen, Rechenschaft von Beamten verlangen, die Bürger zur Kontrolle mobilisieren. 5. Mentalitäten beeinflussen: Erfolge müssen publik gemacht werden, um Vorteile für die sichtbar zu machen, die zu sehr an den nächsten vollen Teller denken, um sich eine ferne Zukunft vorstellen zu können.

Im Dickicht der Wirtschaftskrisen mit ihren Schlingpflanzen-Schlagzeilen wirkt Poor Economics durch seine pragmatische Klarheit wohltuend. Und durch ihre Nähe nimmt man den Autoren Chips-statt-Obst-Passagen á la „Arme erliegen stets der Versuchung“ nicht übel. Die Erkenntnis, dass der willige Geist schwachem Fleisch unterliegt, ist ja nicht neu. Man meint an diesen Stellen des Buches, alles schon einmal gehört zu haben, weil es klingt, als würde etwas ausgesprochen, dass einem auf der Zunge lag: Gab es das nicht schon, dass die Theorie bedenkt, wie die Menschen ticken? Dass man, selbst wenn man selbst nichts auf Statussymbole gibt und billige Seifenoper-Zerstreuung belächelt, akzeptiert, dass das für viele Menschen anders ist?  Dass keiner weise und geduldig genug ist, um volle Verantwortung für sein Wohl zu übernehmen? Gedacht hat man sich das vielleicht schon und trotzdem bleibt der Eindruck, dass es wichtig ist, die Armen gefragt zu haben und dass man Schritt für Schritt ihre Probleme aus dem Weg räumen will mit erprobten und zäh angewandten Kleinst-Methoden, die „bottom up“, also ohne Antworten auf die großen Fragen nach Korruption, Globalisierung und der Rolle ehemaliger Kolonialmächte etwas ändern können, wenn auch erst in 100 Jahren. Da haben sie also ein neues Modell, die Armen mit weniger als einem Euro am Tag. Und es klingt plausibel. Hoffentlich nützt es viel. Doch jetzt steht den Vereinigten Staaten die größte Dürre seit Jahrzehnten bevor. Korn, Soja und Mais werden knapp und sollen dabei für Biosprit reichen und den Bedarf in Afrika decken. Hier kommen dann doch die großen Fragen ins Spiel. Und man ahnt, dass alles wieder komplizierter ist, als gehofft.

 

Interview mit Esther Duflo, Autorin von “Poor Economics”

 Heute kennen Sie Kalkutta gut. Als Kind hatten Sie eine seltsame Vorstellung davon?

Ja, ich hatte ein Buch über Mutter Teresa und dachte, dass jeder Bettler Lepra hätte und gerettet werden muss. Und hat sich in meinem Kopf festgesetzt, dass die Leute in Kalkutta nur einen Quadratmeter zum Schlafen haben. Ich glaubte, der Schlafplatz muss immer quadratisch sein und war sehr besorgt darüber, wie sie zusammengekauert zu kleinen Kugeln schlafen können – bis unser Au Pair sagte, dass ein Quadratmeter auch die Form eines Rechtecks haben kann und ich war etwas beruhigt.

Sie schreiben in der Einleitung zu Poor Economics, dass wir alle uns Arme stereotyp wie Comic-Charaktere vorstellen, also die heldenhaften Armen und die bösen Reichen.

Ja, Armut ist uns nicht gerade geläufig. Wir tendieren darum zu Vereinfachungen und machen es uns so sehr leicht.

Hat das auch etwas mit dem „Teufelskreis der drei I“ zu tun, von dem Sie schreiben?

Die drei I sind Ideologie, Ignoranz und Trägheit (inertia). Hilfsmodelle werden sehr ideologisch entworfen. Man hält an dem fest, wovon man glaubt, dass es das Problem verursacht. Das liegt auch an diesem Cartoon-Charakter Blick auf die Armen. Ignoriert wird dabei die Realität da draußen. Sobald sich Ideen einmal festgesetzt haben, ist es schwer, sie zu verändern, wenn die Posten der Helfer einmal besetzt sind und die Mühlen mahlen. Die Lösung ist, viel mehr Zeit darauf zu verwenden, vorsichtig immer wieder neu geprüfte Methoden zu entwickeln.

Dazu sind Sie 15 Jahre lang in die ärmsten Regionen gereist und haben mit den Menschen vor Ort gesprochen. Sie beschreiben etwa Oucha Mbarbk, den Marokkaner, der weniger als einen Euro am Tag hat und sich und seiner Familie weniger zu essen kauft, weil er einen Fernseher abbezahlt. Wie kann man sich so eine Begegnung vorstellen?

Ich kam in sein Dorf, als wir für ein Schulprojekt recherchiert haben. Wir gingen von Haus zu Haus, haben Eltern befragt, saßen gemeinsam vor seinem Haus und wurden dann zum Mittagessen eingeladen. Wir haben ihn gefragt, was er mit ein bisschen mehr Geld tun würde und er sagte, er würde sich mehr zu Essen kaufen. Mit noch ein bisschen mehr Geld würde er sich „besser schmeckendes Essen“ kaufen. Dann habe ich einen Fernseher mit Antenne und DVD Player im Haus gesehen und gefragt, warum er sich diese Sachen gekauft hat, und nicht mehr Essen. Er sagte: „Aber Fernsehen ist wichtiger als Essen“! Das hat deutlich gemacht, dass arme Leute, genauso wie wir, nicht nur ihren Körper am Laufen halten wollen: Sie wollen ein akzeptables Leben mit Freude und Genuss. In diesem Dorf in Marokko gehört dazu eben ein Fernseher. Und wir müssen das akzeptieren.

Gibt es überhaupt Unterschiede zwischen armen Menschen und uns, außer, dass sie weniger Geld haben?

Im Grunde genommen gibt es keinen Unterschied, weder bei den Stärken, noch bei den Schwächen. Aber ihnen fehlt es an Informationen, an einer politischen Stimme, an Zugang zu Märkten, zu Krediten… Das alles verhärtet die Armut.

Sie schreiben auch von Sand-Trocknerinnen und Läden, deren Sortiment aus nur einem Glas Süßigkeiten und 50 Räucherstäbchen besteht. Was war Ihre absurdeste Erfahrung während der Forschungsreisen?

In einem Slum in Hyderabad, einer indischen Großstadt, trifft man morgens alle 20 Meter eine Frau, die Frühstück macht. Natürlich kauft kein Mensch so viel Frühstück und  die meisten Frauen warteten nur die ganze Zeit. Ich habe mich gewundert, warum sie nicht einfach zusammenarbeiten, statt alleine ein Geschäft zu gründen.

Was ist für Ihre Arbeit das größte Hindernis?

Trägheit. Jeder ist so beschäftigt, zu tun, was man eben so tut, dass es keine Zeit für etwas Neues gibt. Aber ich treffe immer wieder Leute, sowohl Arme, als auch Entwicklungshelfer oder Regierungsmitarbeiter, die wirklich etwas ändern wollen.

Und wie? Schon ewig, man denke an die Fischvermehrung in der Bibel, beschäftigen sich Menschen mit Armutsbekämpfung. Warum hat es nie geklappt? Und was genau ist das Radikale in ihrem Buch, das „radical rethinking of the way to fight global poverty“?

Es hat geklappt: Es gibt viel weniger Armut, als zu biblischen Zeiten. Das ist kein Grund zur Selbstzufriedenheit, wie müssen und können mehr tun. Der „radikale“ Perspektivenwechsel, den wir propagieren, bedeutet, aufzuhören, die Armut auf einmal abschaffen zu wollen, und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, die Probleme einzeln zu lösen. Das bewahrt davor, pessimistisch zu werden, was unvermeidlich ist, wenn man mit der Größe des Problems Armut überhaupt konfrontiert ist.

Erst kommt das Fressen, dann sie Moral, heißt es bei Brecht. Wie kann man trotz korrupter Regierungen und Selbstsucht etwas am Grund ändern, wie sie es sich vorstellen? Muss man nicht erst an diesen Leuten vorbei kommen?

Man kann oben und unten gleichzeitig beginnen. Das Leben der Menschen kann verbessert werden, sie können etwa Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung usw. bekommen. Dabei kann auch am Funktionieren der Regierung gearbeitet werden, indem Führungskräfte mehr Rechenschaft für ihre Leute übernehmen müssen. Das ist nicht mal so schwer. Die Zivilgesellschaft sollte es gemeinsam mit Zeitungen zu ihrer Aufgabe machen, Informationen zur Pflicht und tatsächlichen Leistung von Beamten zu sammeln und zu verbreiten. Studien haben bewiesen, dass das einen Einfluss auf Wahlergebnisse hat.

Die aktuelle Dürre in den USA wirkt sich direkt auf Afrika aus. Warum importiert ausgerechnet Ägypten am fruchtbaren Nil so viel Korn aus den Staaten?

Ägypten war auch der größte Empfänger von Hilfe aus den Staaten. Die politischen Führer haben Vorteile aus der einzigartigen Position als „vernünftiges Land“ in einer unberechenbaren Gegend gezogen, indem sie so viel wie möglich abgeschöpft haben. Das ist weniger eine Frage von Entwicklung, als eine Frage der Geopolitik.

Wie lange dauert es wohl, die Armut zu bekämpfen, wenn man ihren Plan eins zu eins umsetzt?

Das könnte schon eine Weile Dauern. Aber wir haben Zeit. Der Punkt ist, dass wir jetzt beginnen und geduldig weiter machen.

Treffen Sie die Tage viele Zyniker?

Oh ja, natürlich! Aber auch viele Enthusiasten und am Ende dreht sich die Welt wegen diesen Leuten.

Abhijit V. Banerjee und Esther Duflo: „Poor Economics. A radical rethinking of the way to fight global poverty“.  PublicAffairs. 276 Seiten, 13,90 Euro.

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Kategorie: Gesellschaft

Maja Hoock will keine prätentiösen Kultur-Texte lesen. Falls sie welche schreibt, darf sie keinen Nachtisch haben. Gut findet sie die Feuilletonisten, die flanieren können. Tucholsky, Hessel, ihr habt gut hingesehen.

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