Gesellschaft

Auf High-Heels zum Erfolg

Die Hoden werden in die Hodenhöhle geschoben, die überschüssige Haut glatt gestrichen und eine hautenge Unterhose übergezogen. Fertig ist die Verwandlung, die Amaro Wunderlich seit seinem 17. Lebensjahr vollzieht, um abends als Travestiestar auf der Bühne zu stehen.

Seine Frisur sitzt perfekt. Trotzdem fährt sich Amaro Wunderlich ständig durch seine dunkelbraunen Haare. Zupft sie zurecht und legt sie zurück hinters Ohr. Eine halbe Stunde hat er heute Morgen dafür gebraucht, bis sie so lagen. Viel zu lange für sein ungeduldiges Gemüt. Der nächste Friseurbesuch sei dringend. Aber es fehlt einfach an Zeit.

Seit zwei Monaten hat er einen neuen Job. Er ist für das Marketing im Axel-Hotel in Berlin-Schöneberg zuständig. Ein Hotel, das auf die schwule Gemeinschaft ausgerichtet ist. Ein kosmopolitischer und toleranter Ort, an dem das Ambiente, die Vielfalt und der Respekt geschätzt werden. Überall an den Wänden hängen Bilder von halbbekleideten, durchtrainierten Männern. Seit dem jungen Alter von 13 Jahren sei Wunderlich sich nämlich bewusst, dass er schwul ist. Er wollte sich nicht länger quälen und der Öffentlichkeit das perfekte Bild eines Heterosexuellen vorspielen. Er macht was er will, hält sich dabei nicht an die Norm. Frauen gegenüber ist er aber keinesfalls völlig abgeneigt. Es sei schon des Öfteren zu Geschlechtsverkehr mit einer Frau gekommen – „dann aber immer nur in einer Dreierkonstellation“, sagt Wunderlich und zieht seine sauber gezupften Augenbrauen dabei verführerisch hoch, als wolle er flirten. Dabei ist er heute nicht als Frau verkleidet. Passend zu seinem Marketingjob trägt er Jeans mit einem eleganten, blauen Hemd.

Der heute 23-Jährige hat schon früh lernen müssen, alleine zurecht zu kommen. Er wuchs mit seiner 2 Jahre älteren Schwester und seiner Mutter in einem Plattenbau in Cottbus in Südbrandenburg auf. Seine Freizeit verbrachte er bei seiner Oma in der Nähe von Cottbus, in dem 300-Seelendorf  Craupe. Ohne „Erzeuger“. Die fehlende Vaterrolle habe allerdings nicht zu seiner Homosexualität geführt, ist er sich sicher.

Noch während der Schulzeit absolvierte er eine Ausbildung zum Maskenbildner und spielte nebenbei im Schultheater. Seine Noten litten sehr darunter. Sprachen beherrscht er so gut wie keine. Dafür hat er das Fach Darstellendes Spiel als Jahrgangsbester der Realschule abgeschlossen. Ein Fach, das ihm in seinem geliebten Nebenjob enorm hilft. Denn seit einer verlorenen Wette vor fünf Jahren, an deren Inhalt sich Wunderlich nicht mehr erinnern kann, verkleidet der 1,88 Meter große Mann sich regelmäßig als Frau und tritt als Travestiekünstler auf. Am Anfang empfand er diese Verwandlung nur als Spaß. Kam alle zwei bis drei Monate mal in Frauenklamotten zu einer Privatparty. Bis er feststellte, dass „Angie van de More“ – Wunderlichs damaliger Künstlername – mehr Aufmerksamkeit erregt, als seine männliche Person. Heute benutzt er kein Pseudonym mehr, nennt sich in beiden Situationen Amaro.

Kurz entschlossen zog er einige Monate vor seiner Volljährigkeit alleine nach Berlin. Nahm Ballettunterricht, versuchte sich zwei Mal vergeblich als Frisörlehrling und mischte das Berliner Nachtleben auf. Bis er eine Anstellung in dem damaligen Berliner In-Club „Bangaluu“ bekam. Als Drag Queen. Jahrelang stand er dort auf der Bühne, räkelte sich verführerisch an einer Stange und sang mit knallroten Lippen Playback. Sein Highlight bei fast jeder Show: ein astreiner Spagat, bei dem selbst die Frauen ein schmerzverzerrtes Gesicht machten. Von diesem Zeitpunkt an überschlug sich sein Leben. Die Travestie-Jobangebote für verschiedene Events häuften sich. Fernsehsender wurden auf Wunderlich aufmerksam. Es folgten Auftritte in „We are family“, „Deutschlands sexiest Platte“, „Mieten, kaufen, wohnen“, und etlichen weiteren Trash-Soaps. Die Perücken-Kollektion musste auf mittlerweile 40 Stück ausgeweitet werden. Es wurden neue High-Heels in Schuhgröße 41 gekauft. Am liebsten welche mit 14 Zentimeter Absatz, „auf denen lässt es sich am Besten laufen.“ Bis zu 100 Euro gibt er pro Paar aus; achtet auf gute Qualität und einen angenehmen Tragekomfort. Das zahlt sich aus. Im Gegensatz zu manch anderer Frau hat sich der Travestiestar noch nie Blasen gelaufen.

Nach über fünf Jahren im Geschäft ist Amaro Wunderlich Profi auf dem Gebiet der Frauenkosmetik und -klamotten. Sein Schrank ist voll von bunten, glitzernden Kleidern. Die meisten reichen ihm nur bis kurz unter den Po. „Das betont meine 1,14 Meter langen Beine.“ Trotzdem würde er sich nie einer kompletten Geschlechtsumwandlung unterziehen. Er liebt die Rolle als Frau. „Aber ich lebe als Mann, und arbeite als Frau.“ Er möchte nicht täglich stundenlang im Bad stehen um sich zu schminken. Außerdem sei er viel zu stolz auf sein Genital, als dass er es wegoperieren lassen würde. „Dafür hab ich ihn viel zu gern“, erzählt Wunderlich mit einer selbstbewussten, lauten, leicht feminin klingenden Stimme. Allerdings lässt er sich nun in den kommenden Wochen seinen Bart weglasern sowie den leicht herausragenden Adamsapfel wegschaben. Für insgesamt 7.500 Euro. Zwischenzeitlich stand sogar die Überlegung von Brustimplantaten im Raum. Erstmal nur für eine Probezeit von sechs Monaten und auch nur die kleinste Körbchengröße. Leider wollte ihn dabei kein Kamerateam begleiten, so dass die Idee schnell wieder verworfen wurde.

Immerhin trägt die weibliche Amaro Wunderlich normalerweise Cup C bis D. Mit dem „Transwonder“, ein BH extra nur für Transvestiten entworfen, ist das kein Problem. Auch Olivia Jones, eine der bekanntesten Drag Queens Deutschlands, schwört auf diesen Büstenhalter. Das Fett unter den Achseln und rund um die Brust wird so sehr zusammen gepresst, dass nur noch eine kleine Einlage an Silikonkissen notwendig ist.

Dabei hätte Wunderlich viel mehr Chancen bei den Männern, wenn er dauerhaft eine Frau wäre. Die Reaktionen seien überwältigend. Er könnte sich vor lauter Komplimenten kaum retten. Trotzdem bleibt der Berliner It-Boy bei seiner Entscheidung. Da nimmt er auch schon mal in Kauf, dass er mittlerweile seit mehr als drei Jahre Single ist und über ein Jahr lang keinen Sex mehr hatte. „Abgesehen von Blasen und Knutschen, aber das zählt ja nicht“, erzählt Wunderlich wild gestikulierend und zeigt dabei seine großen, frisch gebleachten Zähne.

Wunderlich versteht es Aufmerksamkeit zu erregen. Was er will, wird gemacht. Ein großer Wimpernaufschlag mit seinen rehbraunen Augen hier, ein Kussmund dort. Wenn er spricht, sind die anderen ruhig. Er selbst bezeichnet sich gerne als Alphatier. Er weiß was zu tun ist, damit die Leute ihm folgen. Eine entscheidende Stütze hat er in seiner Managerin Yvonne Marschner gefunden. Einstige Managerin von Alessandra Pocher alias Sandy Meyer-Wölden.

Marschner ist auch diejenige, die Wunderlich davon überzeugen konnte, endlich einen Führerschein zu machen. Vorher hatte er „Angst, die Leute im Verkehr zu verletzten.“ Dabei schien Angst in seinem Leben noch nie eine Rolle zu spielen. Zu seinen Hobbys zählt Fallschirmspringen. Wurzelbehandlungen lässt er sich ohne Betäubungsspritze durchführen. Auch das Coming-Out im jungen Alter von 13 Jahren schien für ihn kein Problem, obwohl seine Großmutter ihn anfangs enterbte. Seine Mutter und seine Schwester haben zunächst auch einmal tief durchatmen müssen; sind heute aber stolz auf seinen Werdegang. Mutter Annett liebt es sogar, mit ihrem Sohn „aufgetranst“ durch die Cottbuser Innenstadt zu laufen. Merkwürdige Blicke der Passanten sind dabei garantiert, aber heute selbstverständlich für die beiden. Auch Oma Grete hat sich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, und ihrem Enkel schon jetzt ihr Haus in Craupe überschrieben.

Dabei will Wunderlich gar nicht mehr zurück in seine Heimat. Er liebt die Hauptstadt. Hier kennt man ihn. Obwohl ihm in Berlin auch nicht jeder mit Respekt gegenüber tritt. Viele Menschen sind immer noch voreingenommen. Verurteilen ihn wegen seines Doppellebens und werfen Wunderlich dumme Sprüche an den Kopf. Darum versuchte er vor einiger Zeit mit der Travestie aufzuhören. Einen Monat lang hat er durchgehalten. Dann kribbelte es wieder und Wunderlich schlüpfte erneut in Frauenkleider. „Travestie ist nicht mein Leben. Aber es ist ein Teil meines Lebens.“ Es sei vergleichbar mit dem eines Schauspielers: Bei jeder Verwandlung schlüpft er in eine andere Rolle. Ende Mai wird dies die Rolle eines Cowboys sein. Wunderlich ist für den belgischen Christopher Street Day in Brüssel gebucht – diesmal allerdings als Mann. Obwohl er dort nicht in hautengen Kleidern auftritt, ist der wöchentliche Gang zum Fitnessstudio ein Muss. Wunderlich ist gertenschlank. Wenn man ihn sieht, will man ihm am liebsten einen Schokoriegel anbieten. Aber sein Po sei „einfach viel zu schlaff“. Darum betreibt er seit einem Monat Sport mit leichten, kontrollierten Stromschlägen. Dies sei viel effektiver und nicht so zeitaufwendig.

Möglicherweise legt Wunderlich seine Frauenkleider doch früher nieder als gedacht. Die erste Meniskus OP wurde schließlich erst vor einem halben Jahr durchgeführt. Zu oft, zu hohe High-Heels. Aber so lange der Travestiekünstler sich keine Blasen in seinen Lieblingsschuhen läuft, wird er wohl noch viele weitere Jahre als Drag Queen in Berlin zu sehen sein. Und vielleicht auch irgendwann überregional bekannt sein – das wäre sein Traum.

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Kategorie: Gesellschaft

Rebecca Schindler wurde am 4. November 1985 in Hannover geboren. Nach mehreren Umzügen landete sie 2001 schließlich im schönen Berlin. Nach der Orientierungsphase (drei Semester) Betriebswirtschaftslehre begann sie das Studium der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität-Viadrina in Frankfurt/Oder. Ihre Schwerpunkte lagen hier bei Linguistik und Kulturgeschichte. Aufgewachsen in der „Generation Praktikum“ absolvierte sie unter anderem Praktika bei der B.Z. – Berlins größte Tageszeitung, 104.6 RTL – Berlins Hitradio, Akte 20.10, dem Berliner Tagesspiegel und arte. Dabei stellte sich schnell heraus, dass ihre große Leidenschaft die Boulevard-Geschichten sind. Seitdem schreibt Rebecca Schindler immer wieder Rezensionen, Porträts und Meldungen über aktuelle Pop-Konzerte, die neusten Musicals und Tanzveranstaltungen. Nach Abschluss des Masterstudiengangs Kulturjournalismus an der Universität der Künste plant Rebecca Schindler ein Volontariat in einer Print- oder Onlineredaktion.