Bühne
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Das Prime Time Theater

Foto: Janina Heppner

In der Theatersitcom “Gutes Wedding, schlechtes Wedding” am Prime Time Theater lacht jeder mit jedem über jeden. Ein Kulturort, der verbindet.

Der Postbote Kalle gibt jedem Besucher die Hand. Der große Mann mit Bierbauch und Vokuhila-Perücke grinst und fragt im Berliner Dialekt nach dem Vornamen. Er steht an der Abendkasse am Eingang. Im Foyer unterhalten sich einige Besucher an der Bar und essen Buletten. Andere sitzen mit einem Glas Wein auf einem der Sofas. Kalle heißt in Wirklichkeit Oliver Tautorat. Er ist Schauspieler und Leiter des Prime Time Theaters nahe der U-Bahnstation Wedding.

Um eine Restkarte zu ergattern, sollte man sich mindestens eine Stunde vor Beginn der Vorstellung anstellen. Am besten man hat reserviert. Wer Stammgast ist weiß, dass er nach Erhalt seiner Karte direkt in den Zuschauerraum gehen sollte: In dem Vorführungsraum, der etwa so groß ist wie ein kleiner Kinosaal, herrscht freie Platzwahl und viele der 230 roten Polstersitze sind bereits mit Jacken besetzt.


Zum elften Geburtstag spielt das Prime Time Theater die Lieblingsfolge der Zuschauer. Die Wunschfolge läuft ab dem 9. Januar 2015.

Oliver Tautorat hat zusammen mit Constanze Behrends das Prime Time Theater Ende 2003 in ihrem damaligen Proberaum gegründet. Im Januar 2004 starteten Tautorat und Behrends die Serie “Gutes Wedding, schlechtes Wedding”, kurz “GWSW”. Bei ihrer ersten Folge waren sie zu zweit und spielten vor siebzehn Zuschauern, von denen sie die meisten kannten. Die Theatersitcom wurde schnell bekannt: Drei Mal musste das Theater bereits umziehen, weil immer mehr Leute die ulkigen Geschichten um den Bezirk Wedding, die Hauptstadt Berlin und das Brandenburger Umland sehen wollten.

In der heutigen Spielstätte in der Müllerstraße haust das Theater seit 2009 und finanziert sich durch Kartenverkauf sowie Sponsoren. Seit 2014 fördert auch das Land Berlin das Prime Time Theater. Constanze Behrends steht seit dem Frühjahr 2014 nicht mehr auf der Bühne, sondern widmet sich ganz dem Schreiben der Serie und ihrer Rolle als Regisseurin. Das Theater hat aktuell vier feste Ensemble- und zwei Gastschauspieler, die jeweils drei bis vier verschiedene Charaktere verkörpern. Eine Folge läuft jeweils für fünf Wochen, an fünf Tagen der Woche. Neben der Fortsetzungskomödie, dem Herzstück des Theaters, werden andere Stücke wie „Harry und Sally“ oder „Liebe, Leid und alle meine Kleider“ von Nora Ephron aufgeführt.

Real Sex is only Wedding!

Der Name des Theaters bezieht sich auf die Uhrzeit, zu der alle Vorstellungen beginnen: Um 20:15 Uhr, zur angeblich besten Spielzeit. Die gesamte Machart der Theaterserie erinnert ans Fernsehen: Sie fängt ähnlich wie die TV-Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ mit einem eigenen Song an. Der Refrain: „Mitte ist Schitte, Prenzlberg ist Petting, Real Sex is only Wedding!“ Auf eine weiße Wand werden Bühnenbilder und Einspieler projiziert. Neulinge können leicht in die Geschichte einsteigen: Zu Beginn jeder Folge fasst das Video „Was bisher geschah“ die bisherige Handlung zusammen. Während beim Fernsehen die Zuschauer in einen Flachbildschirm starren, interagieren sie im Prime Time Theater mit den Schauspielern. Nahsehen statt fernsehen, so das Motto.

Bevor die Vorstellung anfängt, stellt Kalle Fragen ans Publikum wie „Wer kommt aus Prenzlberg und ist kein Veganer?“ Er wirft denjenigen Süßigkeiten zu, die sich melden. Das Publikum ist bunt gemischt: Ein Hipster sitzt neben einem Kapuzenpulli-Jungen, ein Schüler neben einer buckligen Großmutter, ein Ehepaar im Business-Look neben einer albernen Mittvierziger-Gruppe. Alle lachen sie. Das verbindet. In der derzeitigen Folge Nr. 95 “Drei an einem Tag” versucht der Schwabe Üwele die sexbesessene Fitnesstrainerin Jutta von Da loszuwerden. Die Kiezschlampe Sabrina ist verzweifelt, weil sie etwas bei einem ihrer Liebhaber verloren hat. Und Tina Tonnes Hände sind voller Blut, sie ruft: „Das hab‘ ich nicht gewollt!“

Der Charme und Witz der Serie besteht aus dem Spiel mit Klischees und Stereotypen. Aggro Andi kann auch liebevoll sein und die Kiezschlampe ist nicht so blöd, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Dadurch werden die Figuren lebendig und liebenswürdig. Die Rivalität zwischen den Kiezen zeigt die Absurdität von Konflikten über Herkunft und Status. Die Serie lehrt vor allem eins: Über sich selbst zu lachen. Am Ende der Vorstellung steht Oliver Tautorat nicht mehr als Kalle, sondern als Tina Tonne mit engem Body und Röckchen auf der Bühne. Er wendet sich an seine Mutter im Zuschauerraum: „Schau, Mama, so sähe ich aus, wenn ich ein Mädchen geworden wäre.

Foto: Janina Heppner

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Kategorie: Bühne

Julika Bickel

Mit acht Jahren habe ich beschlossen, Schriftstellerin zu werden, weil ich Michael Ende bewundert habe. Ein paar Jahre später habe ich festgestellt, dass die Geschichten der Wirklichkeit mindestens genauso spannend sind wie die der Fantasie. Seitdem will ich Journalistin werden. Meinen Bachelor habe ich in Philosophie und Englisch absolviert, nun studiere ich im Master Kulturjournalismus. Awesome! Mein englisches Lieblingswort. Und um noch ein wenig philosophisch zu werden: In der Kultur zeigt sich, so glaube ich, der Mensch sich selbst. Was er denkt, was er fühlt, was er ist.

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