Bühne
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Die globale Herausforderung

Gibt es Merkmale, die einen westlichen von einem östlichen Körper unterscheiden? Das Tanzstück „milk&bread/rice&water” setzt sich mit dem chinesischen Bild des westlichen Körpers auseinander

©Dieter Hartwig

Eine deutsche und eine chinesische Tänzerin stehen nebeneinander. Mit dem Rücken zum Publikum beugen sie langsam ihre Knie und strecken ihren Po spitz den Zuschauern entgegen. Mit prüfendem Blick beäugen sie sich gegenseitig. Dann vergleichen sie Spannweite der Arme, Fingerlänge und Schuhgröße. Zwei weitere Male findet sich das Bild wieder. In anderer Konstellation werden der asiatische und der westliche Körper mal nach Fettanteil der Bauch- und Oberschenkelpartie, mal nach Kopfbehaarung, oder Hüftumfang geprüft.

Gibt es Merkmale, die einen westlichen von einem östlichen Körper unterscheiden? Wenn ja, ist die Nahrung dafür verantwortlich? Das Stück „milk&bread/rice&water” der Compagnie Rubato setzt sich mit dem chinesischen Bild des westlichen Körpers auseinander, der mit Modernität, Fortschritt und Zukunft gleichgesetzt wird. Brot und Milch machen ihn stark, heißt es.

Geschmeidig bewegen sich die zierlichen chinesischen TänzerInnen Er Gao, Li Ling Xi und Liu Ya Nan, kraftvoll und virtuos die europäischen TänzerInnen Katja Scholz, Mercedes Appugliese und Florian Bilbao. Trotz unterschiedlicher Bewegungssprachen scheinen alle wie von einer äußeren Kraft bewegt, geschleudert, gewirbelt. Und schnell wird klar, dass die wahren Konflikte der Figuren unter der Oberfläche liegen, die beide Kulturen eher einen als trennen.

Es geht um den Einzelnen in der globalen Gesellschaft. Um seine Ohnmacht angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten und den Druck, sich ein möglichst originelles Profil zuzulegen. Um Fragen wie: „Wie behaupte ich mich in einer immer anonymeren Welt?“

So wirkt die Gruppe plötzlich völlig homogen, als die Tänzer in einer Sequenz von wechselnden Standbildern mit geschlossenen Augen und verzerrten Gesichtern verschiedene Posen einnehmen.

Doch es bleibt unklar: sind die Gesichtsausdrücke gequält oder glücklich, die Posen frei gewählt oder vom Nachbarn beeinflusst? Die Figuren scheinen darauf hinzuweisen: wollen wir in der schnelllebigen Welt zurechtkommen– ob freiwillig oder unfreiwillig –, müssen wir lernen zu funktionieren und individuelle Bedürfnisse zurückstecken. Denn wenn wir aus dem System herausfallen sind wir hilflos und allein, wie Li Ling Xi, die in einer Szene der abgewandten Gruppe wieder und wieder verzweifelt versichert „I am completely harmless“. Abgestempelt als Versagerin, wird sie übergangen und ignoriert.

Doch in dieser Szenerie des kalten Miteinanders blitzt manchmal ein Funken warmen Mitgefühls und intimer Nähe, wenn sich zwei Individuen begegnen. Z.B. als Liu Ya Nan Florian Bilbao in den Arm nimmt, als er in ein Mantra von Entschuldigungen verfällt, nur ein ganz normaler Typ zu sein. Die Figuren haben Verständnis für ihre Situationen, ungeachtet ihrer Herkunft.

Das Stück ist ein Warnschrei. Es zeigt die Herausforderungen, die eine zusammenrückende globale Gesellschaft für ein Individuum darstellt und weist auf die Gefahr hin abzustumpfen.

Aber es birgt auch die hoffnungsvolle Nachricht: wenn wir unser Mitgefühl behalten, kann das Zusammenrücken auch zu einer gemeinsam verstandenen Verantwortlichkeit für globale Probleme führen. Jutta Hell und Dieter Baumann ist eine vielschichtige Analyse unserer multikulturellen Weltgemeinschaft gelungen. Gute tänzerische Leistung und ein spannendes Konzept sind zu einem überzeugenden Tanzstück verschmolzen.

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Kategorie: Bühne

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