Archiv

Für mehr Menschlichkeit

Deutschland diskutiert mal wieder über Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit. Leider immer nur unter negativen Gesichtspunkten. Es wird Zeit, endlich mal die Vorteile zu sehen.

Jetzt tun sie wieder so, als ob es hier Probleme gäbe. Regen sich auf, wenn ein paar 13-jährige Idioten nach einer schnell ge-exten Flasche Wodka nicht mehr ansprechbar auf der Straße liegen. Tun so, als ob es die Sicherheit gefährden würde, wenn an der U-Bahn oder im Park die Alkoholiker rumhängen. Und erfinden die fadenscheinigsten Argumente, um neue Verbote zu erlassen. „Müll“, sagen sie? Dann müssen sie auch McDonalds verbieten, oder Zigaretten, Zeitungen und praktisch jede volkswirtschaftliche Einheit, die Bons und Quittungen ausstellen.

Die Realität sieht doch ganz anders aus. In Deutschland ist der Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit konservativer und beschaulicher als der schlimmste Heimatfilm. Es liegt nicht in unserem Naturell, die Öffentlichkeit als Ort des Suffs zu erwählen. Wir bevorzugen die Gaststätten. Die sind unser Revier.

Trunk und Gesang als deutsches Kulturgut

Wir lieben Trunk und Gesang. In dieser Reihenfolge. Hätte Gott gewollt, dass wir das auf der Straße veranstalten, hätte er uns zu Briten gemacht.

Es gibt kulturhistorische Belege für diese These. In „Casablanca“ kommen die Wehrmachtssoldaten in die Kneipe, besetzen das Klavier und singen deutsches Liedgut.

Nicht unähnlich, wenn eine deutscher Fußballverein im europäischen Wettbewerb ein anderes Land bereist. Wir gehen in die Kneipen, saufen und singen unsere Schlachtlieder.

Das kommt ein bisschen martialisch rüber, denn dafür taugt die deutsche Sprache immer noch, die anderen kriegen Angst und wir gewinnen das Spiel. Man führt sich ein bisschen wie ein Nazi auf, ist es aber doch nicht und kann beruhigt schlafen gehen.

Zunehmender Werteverfall

Dass in Deutschland nicht gemeinsam auf der Straße getrunken wird, veranschaulicht nur den Werteverfall und die zunehmende Individualisierung in unserer Gesellschaft.

Schaut nach Spanien oder Frankreich! Die „botellones“ in Sevilla, die „apéro géant“ in Paris!

Hier wird Gemeinschaftsgefühl mit einer kleinen Geste symbolisiert. Statt zuhause zu sitzen und vor dem Fernseher vor sich hin zu trinken – denn man braucht ja nicht so zu tun, als ob hier nichts getrunken würde -, trifft man sich da auf einem ausreichend großen Platz, um das Gelage gemeinsam zu zelebrieren.

Hier in Deutschland braucht man schon ein albernes Straßen- oder Volksfest oder ein sportliches Großereignis, damit sich die Damen und Herren bequemen, mal mit Fremden eine gemeinsame Zeit zu verbringen.

Die soziale Schere bremsen

Zwar ist es schön und für die deutsche Wirtschaft und Kultur von Vorteil, dass es eine Kneipenvielfalt gibt. Und das soll auch so bleiben. Das Problem ist aber, dass eine Kneipe auch immer jemanden ausschließt, weil man kein Geld hat, weil man die falschen Klamotten hat und des Weiteren mehr.

Öffentliche Treffen, bei denen Alkohol konsumiert wird, könnten diesem Wachstum der sozialen Schere entgegenwirken. Man teilt miteinander, man lernt Leute kennen und das alles zu dem Preis und dem Ausmaß, auf das man gerade Lust hat. Gemeinschaft würde erzeugt werden und der demographische Wandel könnte in seiner Kraft erheblich geschwächt werden.

Deutsche Spontanität

Jetzt stellt sich die berechtigte Frage, ob das denn in Deutschland überhaupt möglich ist. Sowas, wie in Spanien und Frankreich. Würden wir nicht leicht dazu tendieren, es wieder zu reglementieren, zu sagen: Jeden ersten und dritten Freitag im Monat öffentliches Besäufnis, bei Regen werden Zelte bereitgestellt? Können wir überhaupt so spontan sein?

Wir können nicht nur, wir sollten es auch endlich lernen. Natürlich ist es schwer, wie jeder Anfang, aber die WM 2006 war ein Beispiel, wo es gelungen ist. Das sollten wir fortsetzen.

Es auch mal ohne Großleinwand probieren. Ein bisschen Gesellschaft üben. Den Einsamen die Möglichkeit geben, abseits von Wallfahrten nach Taizé und ähnlichem Hokus-Pokus, wieder Leute kennen zu lernen. Die Behinderten integrieren. Wieder ein bisschen solidarischer, ein bisschen menschlicher sein.

Und natürlich wird da mal einer umfallen. Aber würde er es nicht auch sowieso?

Keine Zwänge, nur Gemeinschaft

Wir müssen das öffentliche Trinken nicht eindämmen, wir müssen es fördern. Sozusagen den Geist aus dem Jahr 2006, in dem unser Land ein paar Wochen lang Schland hieß, in neue Dimensionen befördern. Ohne Fußball, denn auch Fußball schließt aus. Eine öffentliche Anlage tut das nicht. Denn wer keinen Alkohol mag oder darf, muss ja auch nicht. Abstinenzler und Muslime dürfen sich auch willkommen fühlen.

Wie wäre das schön, was würde es alles über unser Land aussagen, wenn so was möglich wäre? Wenn sich die Menschen, abseits von Anlässen und Konsumierpflicht treffen und ein paar Stunden gemeinsam verbringen? Uns selbst und die Welt überraschen könnten. Die Deutschen: entspannt und locker. Wer hätte das gedacht?

FacebooktwitterFacebooktwitter