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Die Einsichten einer Barfrau

Motto: Niemandem Ahn. Gedicht von Endre Ady.

Niemandem Ahn …
Niemandem Ahn, niemandem Erbe,
Niemandem anverwandt, bekannt, und sterbe…
Bin jemand – keinem,
Bin jemand – keinem.

Bin doch, wie jeder andere: Hoheit,
Nordkap, Geheimnis, Fremdheit, Soheit,
Irrlichternd, ferner Schein,
Irrlichternd, ferner Schein.
Doch ach, kann weiter so nicht bleiben,
Würde mich andern gerne zeigen,
Dass sie mich wirklich sähen,
Dass sie mich wirklich sähen.
Dafür all dies: Selbstqual, mein Singen,
Könnt’ man mir Liebe doch entgegenbringen,
Und ich wär’ jemandes,
Ich wäre jemandes.

(Könnt man mich lieben doch – Übertr. v. A. W. Tüting)

Es ist um drei in der Nacht, das Konzert ist vorbei, die meisten Gäste sind schon heimgekehrt, nur die Band ist noch dabei. Langsam kann die Frau hinter dem Tresen auch durchatmen. Sie arbeitet schon seit einigen Monaten in der kleinen Bar in Neukölln und hat sich schon vielerlei Geschichten von den Gästen angehört. Sie nennt sie einfach Berliner Geschichten. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass jeder Erzähler ein Mensch ist, der in einer Grenzsituation lebt. Das Leben hat sie irgendwie nach Berlin gebracht, und nun sind sie hier und versuchen mit dem Ganzen etwas anzufangen.

“Es ist die Einsamkeit. Ich treffe sie manchmal”

Ein schon seit Jahren hier lebendes amerikanisches Mädchen, Molly, 32, fängt an, über ihr Berlin-Erlebnis zu erzählen. „Es ist die Einsamkeit. Ich treffe sie manchmal. Sie erscheint wie ein Dieb, mit einer großen, schwarzen Kapuze, angsterregend kleinen blauen Augen und Zähnen, die vom Rauchen schon gelb sind. Ich merke wie er mir in der S-Bahn gegenübersitzt und mich anstarrt. Dann legt der Dieb seine Hand auf meine Schulter und alles beginnt um mich herum zu gefrieren. Und er rattert mit mir durch die immerwährenden, ewig dauernden S-Bahnfahrten über graue, dürre Industrielandschaften, und ich werde von seinem eiskalten, sauren Atem umnebelt. Ich kann ihn nicht loswerden.“

Sie lacht trotzdem, und nimmt das Leben mit mancher Sicherheitsladung von Marihuana wahr. Sie lebt seit vielen Jahren in Berlin. Eine fünfjährige Ehe liegt schon hinter ihr sowie eine Scheidung, Theatherstudium, Weltreisen. Jetzt hat sie ihren eigenen Klamottenladen in Berlin und singt bei einer psychedelischen Jazz-Rock-Band, die in der Neuköllner Bar gerade aufgetreten ist. Bald trifft ihre asiatische Freundin ein, die in einer Bäckerei arbeitet und einen Haufen leckerer belegter Brötchen mitbringt, die Überreste des Tages. Molly vermisst ihre Familie in den USA tierisch, und kann kaum erwarten, über Ostern nach Hause zu fahren (ihre Großmutter, eine Jazz-Sängerin feiert ihren Geburtstag), aber sie würde Berlin auf Dauer nicht mehr verlassen. Sie hat ihr Leben hier schon aufgebaut.

Seit fünf Jahren auf der Suche nach Vollständigkeit

Sabine, 29, geht es ähnlich. Sie gehört zu den aus Deutschland stammenden Berlin-Zugezogenen, die als erfolgreiche Singles in der Stadt leben. Während des Tages ist alles in Ordnung, man muss arbeiten. Weniger glücklich ist sie, sobald sich der Abend niedersinkt. „In den letzten Wochen bin ich traurig“, erzählt sie. „Ich habe den Sack voll von der Jagd auf Ereignisse, Menschen, Geschehnisse, nur damit es irgendetwas gibt, damit ich irgendwo hingehöre, damit ich nicht einsam bin.“ Seit fünf Jahren wohnt sie in Berlin und ist immer noch auf der Suche nach Vollständigkeit.
Und dann gibt es den, der sich verzweifelt klammert. Dieser Typ von Mensch würde sich gleich mit beiden Händen festkrallen an dem, der ein wenig nett zu ihm ist. „Berlin ist eine einsame Stadt“, seufzt Markus, 35. Er rannte vor einer schlecht gelaufenen Liaison aus Köln davon. Die Folgen dessen wird er dennoch ein Leben lang tragen: ein krankes Kind und das hohe Vaterschaftsgeld. Seine Vergangenheit begleitet ihn, egal was er macht. Verzweifelt hat er versucht, zu allen möglichen Menschen Kontakte zu knüpfen, Programme zu organisieren, Seelenverwandte zu finden, aber das kopflose Herumtreiben hat an dem Wesentlichen nichts geändert. Er gehört nirgendwo hin, für niemanden ist er Jemand in dieser Stadt. Das Biest der Einsamkeit sitzt in seinem Nacken und lässt ihn nicht atmen.

“Apropos, würdest Du mir deine Handynummer geben?“

Der lustige Kerl bestellt sich noch ein Bier. Dieser Typ leidet auch bitter, aber er schreibt schmerzstillende Lieder, die er auch vorträgt, und das hilft bei der Aufarbeitung. Er mag das Leben viel zu sehr, um sich von etwas zu lange niederdrücken zu lassen. „Ich bin wegen einer Frau gekommen“, so Roberto, 38, der Italiener. „Als ich ankam, wollte sie nicht mehr mit mir sein. Was hätte ich tun können? Ich musste es überleben. Jetzt war ich schon da. Ich bilde mich weiter, spiele Musik, arbeite. Es ist drei Monate her, und es tut immer noch weh, aber ich will es nicht mehr rückgängig machen. Wie ich meine Tage verbringe? Ich ziehe durch die Gegend und gucke, wo ich musizieren kann, und schreibe Lieder“, und er lächelt. „Schau, ich spiele dir eins vor. Das habe ich noch über sie geschrieben. Apropos, würdest Du mir deine Handynummer geben?“

Molly bittet um einen Aschenbecher, und spricht fort: „Ja, wie in dem Ungarischen Gedicht, aus dem du zitiert hast: hier bin ich „Niemandem Ahn, niemandem Erbe/ Niemandem anverwandt, bekannt, und sterbe…/ Bin jemand – keinem.” Das ganze ist nur ein Tanz der Spiralen, bei dem jeder nur um sich herum kreist, ab und zu mit einem anderen verfangen wird, aber eigentlich zu niemandem richtig Kontakt hat.
Aber weißt Du, ich habe schon an vielen Orten der Welt gelebt. Es war überall genauso. Und aus den Spiralen gibt es einen Ausweg, nur diese Leute – ich auch – sind bei den Stationen unserer Vergangenheit stehengeblieben, wir haben unaufgearbeiteten Kummer oder Schuldgefühle wegen früheren Entscheidungen, und wir können den Knoten nicht mehr lösen – wir sitzen in der Grube anstatt an uns selbst zu arbeiten.“

Alles im Leben weitergeben

Claudia, 48, Schauspielerin, liest aus dem Dialog zwischen Eva und Charlotte in Bergmans Herbstsonate vor. Mutter und Tochter treffen sich nach vielen Jahren wieder. Vorwürfe der Tochter an die Mutter. Es wäre doch so einfach, mit dem scheinbaren Opfer einverstanden zu sein. Aber Charlotte ist nur aus dem Gesichtspunkt von Eva Täter. Wenn sie ihre Geschichte erzählt, verstehen wir, warum sie ihre Tochter so behandelt hat – sie hat nur das weitergegeben, was sie zu Hause erfahren hatte. „Diese Sachen können nicht vergeben werden“, so Claudia, „und es macht sowieso keinen Sinn, über die zu reden, denn es ändert nichts mehr. Das Interessante ist, wie man in dem Jetzt mit seinem Leben umgeht. Hat er aus der Situation, die ihm zugeteilt worden war, gelernt, um danach weiterschreiten zu können? Mutter und Tochter bekommen eine neue Chance durch das Treffen. Eine Chance, etwas in sich selbst zu lösen, zudem sie bisher unfähig waren. Es geht nicht um die beiden, sondern um jeden einzelnen selbst.

Mein Gebet lautet: Lass mich so lieben, dass ich nichts und niemandem dermaßen zugeneigt bin, um ihn nicht jede Zeit gehen lassen zu können, und sollte ich letzteres tun, dann soll ich wissen, dass ich auch das aus Liebe mache.

Der Rest? Der kann nur mit Humor begriffen werden. Wie der alte Spruch sagt: Man kann nicht alles bekommen, was man will, aber man soll ja froh sein, wenn man nicht das bekommt, was man verdient hat.“

Berliner Geschichten. Einige aus den vielen, die die Barfrau in der Neuköllner Nacht hinter dem Tresen mitbekommt. Menschen, die in einer Grenzsituation leben, die irgendwie hierhin geraten und nun da sind. Und versuchen mit dem Ganzen etwas anzufangen.

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