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Pubertät im Frack

Der 21-jährige Dirigent Yoel Gamzou ist ein Wunderkind. Bei seinem großen Auftritt in der Berliner Philharmonie musste er zeigen, welches Phänomen letztendlich den Taktstock schwingt: Das Wunder oder das Kind.

Allen Anwesenden war die besondere Bedeutung des Abends bewusst. „Weltpremiere“ stand mit großen Lettern in den 32 verheissungsvoll im Orchestergraben versammelten Augenpaaren des Mahler International Orchestra. Die Jugendabteilung der weltweiten Mahler-Fachkundschaft um Dirigenten Yoel Gamzou hatte zum Konzert geladen. „Weltpremiere“ schwirrte wie ein großes Ausrufezeichen über den Köpfen des zahlreich erschienenen Publikums.

Maestro Wunderkind

Kein Geringerer als der mit Preisen überschüttete Solo-Flötist der Berliner Philharmoniker, Emmanuel Pahud, hatte sich bereit erklärt für den jungen Wahlberliner Gamzou – mittlerweile „Maestro Wunderkind“ persönlich – zu gastieren. Das Publikum vermutete Großes, zumal doch bekannt geworden war, dass Pahud, in seiner Rolle als nobler Förderer des „enfant terrible“ Gamzou, auf seine stattliche Gage gleich gänzlich verzichten wolle.

Schon einmal, im September 2008, war der junge Gamzou ähnlich in der Philharmonie aufgetrumpft. Damals dirigierte er mit viel Aufsehen eine andere „Weltpremiere“: die Uraufführung seiner eigenen Fassung von Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie. Für das Konzert konnte Gamzou den 1. Konzertmeister der Berliner Philharmoniker gewinnen und sorgte so für die nötige Breitenwirkung.

Pathos-Bonbon

Dirigenten-Hoffnung Yoel Gamzou Foto: Promo

Auch diesmal wollte der zappelige junge Mann im Orchestergraben dem besonderen Anlass einer Weltpremiere Nachdruck verleihen. Gleich zu Beginn griff Gamzou zum Mikrofon, hielt eine verwirrende Rede zu Idealismus und Neuanfang und widmete als musikalisches Vorprogramm ein zwei-minütiges, nicht ganz zuckerfreies Pathos-Bonbon von Ludolf Nielsen dem 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, Barack Obama.

Derart eingestimmt, sollte das Publikum im Laufe des vierteiligen Konzerts, Stück für Stück an Gamzous Meisterwerk herangeführt werden: Ein neues Arrangement von Mahlers 9. Symphonie.

Der dramaturgisch-taktische Aufbau des Konzertprogramms war dann auch geschickt auf diesen einen Höhepunkt ausgelegt. Er sollte mit Schubert im ersten Teil demonstrieren, dass dieses Mahler-Ensemble kein geschichtsloses Scheuklappen-Orchester ist, das nur eines wirklich gut kann: Mahler spielen. Gleichzeitig konnten mit Schubert die erwartungskonservativen Konzertbesucher besänftigt werden.

Star-Light-Express

Mit Nielsen im zweiten Teil kam Pahuds große Stunde. Der Berliner Philharmoniker spielte die rhytmisch komplex zwitschernden Passagen aus Carl Nielsens Flötenkonzert mit nachhallender Sicherheit. Hier sprang Gamzou mit seinem Orchester gänzlich auf den vergoldeten Star-Light-Express des gefeierten Solisten auf.

Auch Debussy im dritten Teil war eine taktisch kluge Wahl. Debussy hat viele Stimmungen, mal melancholisch-orientalisch, mal ungreifbar-impressionistisch, doch zeichnen sich diese Stimmungen dadurch aus, dass sie nie ganz das Eine oder Andere sind. Debussy ist der Meister der Spannung und somit ein kluger Wegbereiter für Gamzous Herzstück.

Mahlers 9. Symphonie bei der sich Gamzous nervöser Übereifer am Dirigentenpult vollends entlud, geriet angesichts der körperlichen Entrücktheit ihres Arrangeurs aber fast ins Hintertreffen. Das Wunder blieb aus. Trotzdem ist der jungen Dirigenten-Hoffnung Gamzou eine grandiose Leistung nicht abzusprechen. Denn was Kinder zumeist nocht nicht wissen:

Besessenheit kann eine Tugend sein. Aufdringlichkeit ist keine.

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